Istanbul als Welthauptstadt der Plastiktüten? Unsere Autorin Pia versucht, in Istanbul ohne Verpackungen einzukaufen: Und das geht einfacher als gedacht. Ein Bericht der Erfahrungen aus ihrem Selbstversuch.
So viel steht fest – der Versuch eines nachhaltige(re)n Lebens ist in geographischen Neuordnungsphasen aufwendiger als der Nichtversuch. Es braucht Zeit, Geduld und einiges an Suchmuße bis für die Gegenstände des täglichen Bedarfs ökologische(re), faire(re) und verpackungs- und plastikfreie Alternativen aufgetan sind; nicht immer verläuft dieser Suchprozess dabei erfolgreich oder gar linear, Kompromisse und Sackgassen scheinen den Weg zu pflastern in eine nachhaltig-gerechtere Welt. Und dann gibt es die Situationen, in denen es viel einfacher wird, als erwartet:
Meinen Umzug von Berlin nach Istanbul vorbereitend, hatte ich schon in Berlin ein paar gedankliche Trockenübungen zum Thema unverpackt einkaufen in Istanbul gemacht. Wenn ich nämlich etwa mit meiner türkischen Familie einkaufen gehe, habe ich manchmal den Eindruck, wir kommen mit mehr Plastik nach Hause, als wir an Gewicht und Umfang an Lebensmitteln eingekauft haben. Mit Horror oder besser gesagt gedanklichem Plastikallergieausschlag denke ich an eine größere Gemüse- und Obstbesorgung mit meiner Tante zurück, an deren Ende der Kofferraum ihres Autos gefühlt nur aus durcheinander gewürfelten Plastiktüten bestand, nicht wirklich ernsthaft unterbrochen durch ein paar rote Tomaten-, Gurken- und Pfirsichtupfer, die ein bisschen traurig unter dem Plastikberg hervorlugten. Ich bin mir nicht sicher, ob in diesem Zusammenhang die Anfang des Jahres eingeführte 25-Kuruş-Gebühr auf Plastiktüten schon viel verändert hat. Mein Eindruck ist eher, dass der Einsatz der kleinen, dünnen Gemüse- und Obsttüten zu Kompensationszwecken gar phantastische Ausmaße erreicht hat.
Aber, letztendlich kein Problem, dachte ich mir: Es gibt ja Kapalı und Mısır Carsı (den Großen und den Ägyptischen Basar), also quasi die Ur-Ur-Opas der heutigen Unverpacktläden , und natürlich die ganzen pazars (Wochenmärkte) für Obst und Gemüse. Überlegungen mit dem Hang zur Selbsttäuschung, wenn ich bedenke, dass ich es in Berlin schon kaum hinbekommen habe, den Unverpackt-Laden fünf Fahrradminuten von meinem Zuhause aufzusuchen und vermutlich meine Wochenmarktbesuche in all den Jahren an zwei Händen abzählen kann. Ganz spezifisch wochentag- und uhrzeitbeschränkte Einkaufsoptionen sind für etwas unorgansierte Menschen wie mich nur begrenzt alltagskompatibel.
Refik amcas Unverpackt-Paradies
Zum Glück habe ich dann aber, direkt als ich vor einem halben Jahr von Berlin nach Istanbul umgezogen bin, Refik amca (Onkel) und seinen ambalajsız (ohne Verpackung) Laden entdeckt – komplett alltagstauglich just um die Ecke meines neuen Zuhauses in Tophane mit großzügig über alle Tage der Woche verteilten Öffnungszeiten.
Refik amca befüllt mit großer Hingabe und äußerst ruhiger Hand meine mitgebrachten Gläser mit getrockneten Kräutern oder Paprikapulver. Auch als ich Gläser mitbringe, die für ein einfaches Befüllen mit den Gewürzscheufelchen viel zu kleine Hälse haben, lächelt der ambalajsız Amca nur und sagt, dass er das sehr gerne mache. Und mit einigem Geschick schafft er es dann auch, fast ohne, dass etwas daneben geht, die Gläser zu befüllen.
Beutel mit getrockneten Aprikosen, Feigen und Datteln werden immer mit einer besonders sorgsamen schleifenähnlichen Konstruktion verschlossen. Da hilft auch kein Hinweis darauf, dass das nicht nötig sei, weil man ja gleich um die Ecke wohne und die Beutel auch einfach zugewurschtelt nach Hause transportieren könne.
Das Angebot im Laden ist im Verhältnis zur Raumgröße sehr beeindruckend. Es gibt einen großen Sack Mehl, Eier, verschiedene Schärfestärken biber salçası (Paprikapaste), eine ganze Truhe voll mit Mantı , viele verschiedene Gewürze, Oliven. Mindestens sechs verschiedene Sorten Reis reihen sich in offenen Papiersäcken aneinander, daneben Linsen in diversen Farben. Es gibt Mandeln, Walnüsse, Lokum (türkischer Honig), Cashews, geröstete Maiskörner, frischen Yufkateig und obendrein sogar die entscheidende Grundzutat für selbstgemachten Allzweckreiniger – Zitronensäure. Ay çekırdek tragen wir regelmäßig gefühlt kiloweise aus dem Laden.
Ob er noch andere ‘torba getiren’ (beutelmitbringende) Kund*innen habe, frage ich Refik amca während unseres kleinen Plauschs. Nach kurzem Nachdenken fallen ihm zwei weitere Kund*innen ein, eine Dame die mal im Haus über dem Laden gewohnt habe und aus Frankreich komme und eine Frau, die eventuell aus Deutschland, jedenfalls nicht aus der Türkei sei.
Refik Amca kann sich selbst aber noch gut an seine mahalle vor der Invasion der Plastikverpackung erinnern. Geboren und aufgewachsen ist er in den 50ern ganz um die Ecke vom Laden, auch jetzt noch wohnt er nur einen größeren Steinwurf weit entfernt. Allerdings nicht mehr in dem kleinen, zweistöckigen Haus, in dem er geboren wurde. In den Nebenstraßen der Nachbarschaft waren diese früher typisch. Während sich allerdings auf der Hauptstraße des Viertels – eine dieser steilen Straßen, die Tophane mit der Istiklal verbinden -und an der auch Refik amcas Laden liegt, noch reichlich architektonisch historische (ehemals) reich verzierte, fünf- bis sechsstöckige Häuser aneinanderreihen, habe man vor etwa 50 Jahren begonnen, die kleinen Häuser in den Nebenstraßen abzureissen und durch höhere Neubauten zu ersetzen, erzählt er mir. Früher hatte sein Vater einen Manav (Laden für Obst und Gemüse) auf derselben Straße – ein plastiktütenfreier Ort, weiß Refik amca mir zu berichten. Tragebehältnisse wurden mitgebracht oder Obst und Gemüse in Beuteln aus Packpapier oder alten Zeitungen nach Hause transportiert.
Optionen ohne Verpackung beim bakkal, pide- und balcı
Und auch heute ist das Unverpackt-/Plastikfrei-einkaufen in der Türkei eigentlich viel einfacher als in Deutschland. Während dort fast nichts von den alten Krämer*innen-Läden mit ihren Bulk-Shopping-Optionen (Einkaufen mit mitgebrachten Behältnissen) übrig geblieben war und daher das Unverpackteinkaufen mühsam quasi neu erfunden werden musste, gibt es in der Türkei viel mehr historische Kontinuitäten, an die gewillte Einkäufer*innen anknüpfen könn(t)en und einen größeren aktiven Erinnerungsschatz, der bei Eltern, Tanten und Onkeln aktiviert und für das eigene Einkaufen nutzbar gemacht werden kann. Mein Papa erinnert sich zum Beispiel noch gut daran, wie meine Oma ihn immer zum Nachfüllen des familiären Kolonyaflasche losgeschickt hat und auch meine türkischen Tanten benutzen trotz ihres exzessiven Plastiktütenkonsums alle möglichen alten Behältnisse zum Marmeladekochen und für das Überwintern mit Tonnen an selbstgemachter Tomatensoße.
Der Fortbestand der Kultur des kleinen, spezialisierten Einzelgeschäftes hilft darüber hinaus, mit ein bisschen gutem Willen und Einkaufsvorbereitung, den eigenen Müllhaufen zu reduzieren. Beim Honigladen unten in Karaköy wird mir anstandslos der Honig vom Zapfhahn in das mitgebrachte Glas gefüllt, fertigen Teig für Pizza zwackt der Pideci auf Nachfrage auf halbem Weg von seinem Backprozess ab. Auch heute noch gibt es beim manav fast das ganze Obst- und Gemüseangebot, ohne die in Deutschland häufig anzutreffende Plastikverpackung.
Sogar Kaymak ohne Verpackung bekomme ich bei einem Bakkal in meiner Mahalle. Dieses Wissen habe ich allerdings dem Spürsinn meines Papas zu verdanken, der bei seinem Besuch vor einiger Zeit durch meine Keine-Verpackung-Tiraden getriggert, quasi einen Wettbewerb daraus gemacht hat, den Frühstückseinkauf zero waste zu wuppen. Aber das passt ja letztlich auch gut zu der Erkenntnis, dass wir das mit der Weltverbesserung eh nur hinbekommen, wenn wir daran gemeinsam arbeiten und unser Wissen teilen. Und auch, wenn es doch mal ein klassischer Supermarktbesuch ist: von Köfte bis Käse wurde von den Verkäufer*innen bislang alles anstandslos in die mitgebrachten Gefäße gefüllt – da habe ich in Deutschland schon ganz andere Erfahrungen gemacht…
Falls Unverpackteinkaufen also demnächst der neuste Trend in Istanbul wird – die Infrastruktur in meiner Mahalle dafür ist auf jeden Fall schon oder vielleicht eher Noch immer am Start.
Text und Fotos: Pia Uçar