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Comicromane, Coming of Age und Culture Clash

Özge empfängt mich in der Eingangshalle der American Academy. Es ist ein mächtiges weißes Gebäude mit Bibliothek und einem riesigen Balkon, von dem man die Segelboote auf dem Wannsee zählen kann. Der Bankier Hans Arnold ließ die Villa bauen und floh dann von den Nazis, die sich die Räumlichkeiten unter den Nagel rissen. Seit 1998 befindet sich hier nun die American Academy, die interkulturellen Austausch betreibt und Akademiker*innen verschiedenster Disziplinen beherbergt, welche hier einige Monate in Ruhe an ihren Projekten arbeiten können. Özge Samancı ist eine von ihnen. 2015 hat sie das Buch „Dare to disappoint: Growing up in Turkey” herausgebracht und damit in den USA und der Türkei für Aufsehen gesorgt. Jetzt sitzt sie an ihrem zweiten Comicroman.

Özge wuchs in Izmir auf, gemeinsam mit ihrer Schwester und unter den Umständen des Coups der 80er Jahre und dem Druck von Familie und Gesellschaft im Nacken, was “Anständiges” zu werden. Dieses Konglomerat an Umständen und die Suche danach, was sie eigentlich vom Leben will, verarbeitet sie ziemlich getreu in „Dare to disappoint”. Es ist eine Zusammenfassung ihrer Coming of Age-Suche. Özge selbst studierte – recht vorzeigbar – Mathematik an der Boğaziçi Universität, bevor sie dann an der Bilgi Universität Medien und Kunst für sich entdeckte. „Gezeichnet habe ich schon immer, meine ganzen Hefte waren voll von Zeichnungen”, erzählt sie. So erkannten auch Freunde ihr Talent und ermutigten sie, sich darin weiter zu entwickeln. Ihre erste Publikation war in der Comic-Zeitung Leman. „Das wär für mich eine wichtige Bestätigung von außen, dass es noch andere Arten gibt, zu arbeiten.” Bis dahin war für sie Arbeit gleich Anstrengung. Doch nun bekam sie ein erstes Gespür dafür, dass Arbeit auch Spaß machen konnte. Und so nahm Özges Geschichte ihren Lauf.

Özge Simanci, Interview MAVIBLAU

Zur Veröffentlichung des Comicromans kam es allerdings erst 2015 – da lebte sie schon zwölf Jahre in den USA. „Ich brauchte Zeit, um meinen eigenen Stil zu finden”, sagt sie. Sie zeichnete zwar immer, doch auch während ihres Masters „Film and Television” an der Bilgi Universität Istanbul, war Comic keine angebotene Disziplin. Das brachte sie sich alles selbst bei. Da es zu der Zeit kein Doktorprogramm in der Türkei gab, das ihr entsprach, suchte Özge, wie damals viele Freunde auch, im Ausland nach Alternativen und landete so in Athens Ohio in den USA. Durch eine Webcomic-Serie, in der sie ihr Leben als Neuankömmling in Amerika beschreibt, experimentierte sie mit Formen, Farben und Techniken und entwickelte ihren eigenen Stil. Besonders eigen sind die Materialien, die sie nutzt. Von Autoscheibenglas, über Knochen, Stoffe und Gewürze dienen viele Substanzen und Gegenstände als Vorlagen und Material für ihre Bilder. Die Entwicklung dieser braucht seine Zeit. Und so auch die Zeichnungen für ihre Autobiographie.

Eine der größten Herausforderungen bei der Publikation von Dare to disappoint war anfangs, ihre Geschichte so zu erzählen, dass ein US-amerikanisches Publikum es verstehen würde – denn das Buch sollte zunächst auf Englisch erscheinen. Ihr Verleger war in den USA und dort war inzwischen auch Özges Basis. „Und mit Englisch erreicht man viel mehr Menschen”, fügt sie hinzu. Doch als der erste Entwurf vom Lektoriat zurückkam, war er mit roten Fragezeichen übersät: Was war dies für eine Tradition, was war das für ein geschichtliches Ereignis? Özge hatte so erzählt, wie sie es Freund*innen in der Türkei erzählen würde. Vieles war für Türkei-Fremde ungeklärt. Bis der Roman dann kulturell angepasst war – das Türkische auf unterhaltsame Art und Weise erklärte  – vergingen einige Jahre. Inzwischen ist der Comicroman auch ins Türkische übersetzt worden. Eine deutsche Version gibt es noch nicht.

Özge Samancı ist nun Dozentin an der Northwestern University bei Chicago. Sie hält Vorlesungen im Bereich Digitales und interaktive Medien – ein Bereich, den sie mit ihrem Studium Mathematik und Medien gut ausfüllen kann. Und sie kreiert Kunstinstallationen, die sich mit der Beziehung zwischen dem Ich und der Umwelt beschäftigen, die gegenseitige Beeinflussung aufzeigen und herausstellen, dass es diese Trennung so scharf gar nicht gibt. Dare to disappoint – das ist die Herausforderung: die Beziehung zwischen einem selbst und dem da draußen zu testen. Eine der Installationen zum Beispiel ist ein Gerät, das die Aktivität der Gehirnwellen misst. Mit den eigenen Gedanken kann dann vor einem Bildschirm ein ganzes digitales Meer in Schwingungen gebracht werden.

Özge Simanci, Interview, Graphic Novel

Doch jetzt ist erstmal Auszeit für die akademischen Gehirnwellen. Auszeit für das neue Buch. Es werden zwei Geschichten erzählt. Von einer Amerikanerin, die in der Türkei landet. Und einem Türken, der nach Athens Ohio kommt – ganz unautobiographisch geht es nicht. Beide Figuren treibt die Flucht nach vorne. Das Entfliehen von einem Verlust im Heimatland. „Wenn wir gehen, treibt uns auch immer etwas weg, von dem Ort, den wir verlassen”, findet Özge. Auch wenn das Neue ein Abenteuer verspricht. Der Comicroman wird wieder die verspielte, komische Art aufgreifen, die auch in Dare to disappoint zu finden ist. Es wird um die Absurdität der Situationen gehen, deren Erleben das Fremdsein mit sich bringt. Und um die Fragen, die man sich stellt, wenn man ein neues Land für sich erschließen möchte. So hat Özge das 2003 in den USA erlebt. Jetzt schickt sie zwei Charaktere auf diese Reise.

Bis Dezember ist Özge Samancı noch in der American Academy in Berlin-Wannsee. Und sammelt Details, die später zu bunten Bildern in ihrer Geschichte werden.

Text und Bilder: Marie Hartlieb

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Rough und gleichzeitig verletzlich