Das größte deutsche Festival für internationalen Dokumentar- und Animationsfilm bot im 59. Jahr seines Bestehens mit dem Länderfokus Türkei einen Einblick in die dortige Doku-Kultur. Es stellte somit eine Plattform für die vielen Stimmen der türkischen, kurdischen und armenischen Filmemacher*innen dar – abseits von den großen Schlagzeilen der letzten Wochen und Monate. Insgesamt 18 Filme hatte Kuratorin Özge Calafato für DOK Leipzig ausgewählt und unter den Titel Schatten des Halbmonds gestellt. Nach der Woche Festival bleiben viele Eindrücke und Fragen.
‚Come to see reality‘ – der Slogan des Trailers zum diesjährigen DOK eröffnet die Frage nach Realität und Rahmung, nach Wirklichkeit und Konstrukt. Was die Realität für Filmemacher*innen in der Türkei bedeutet, wurde nicht nur an den politischen Inhalten der Lang- und Kurzfilme deutlich, sondern auch bei dem DOK Talk Special Dokumentarfilme in der Türkei: Grenzen überschreiten im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig. Tatsächlich ist der Länderfokus thematisch nur allzu gut mit dem übergreifenden Motto des Festivals vereinbar – Ungehorsam als Tugend und treibende Kraft einer Gesellschaft.
Ein Land durch die Linse
Als das Leitungsteam von DOK Leipzig im Januar die Türkei als Länderfokus wählte, konnte noch niemand wissen, was sich in den nächsten Monaten ereignen würde und welche Brisanz die Entscheidung dadurch bekommen sollte, erzählt uns Kuratorin Özge Calafato. Sie selbst hat Politikwissenschaften in Istanbul und Journalismus in London studiert. Calafato schreibt über Kunst und Kultur und arbeitet für verschiedene Filmfestivals weltweit. Im Interview beantwortet sie die Frage nach ihren Auswahlkriterien für die Filme damit, dass die künstlerische Qualität an erster Stelle stehe, dann käme der Inhalt. Die Festivalleitung hätte ihr lediglich den Rahmen vorgegeben, kreative und aktuelle Dokumentarfilme (Entstehungsdatum innerhalb der letzten drei Jahre) zu zeigen. Ein Länderfokus wurde auf dem DOK Leipzig etabliert, um mit den Stimmen und Blicken der dortigen Filmschaffenden den politischen Entwicklungen in einem Land einen Raum zu geben. Die Entscheidung für die Türkei ist in jedem Fall nachvollziehbar. „Die Idee war ein möglichst umfassendes Bild der Türkei zu zeigen, mit so vielen Ebenen wie möglich, um eine Idee über die gegenwärtige Türkei zu geben. Die Filme haben überwiegend politische, aber auch soziale Inhalte“, sagt Calafato.
Definitiv kann das von ihr kuratierte Programm mit den übergreifenden thematischen Zusammenhängen als Politikum verstanden werden. Unter den Kategorien Durchhalten, Hartnäckiges Gedächtnis, Geschichten des Widerstands, Militärnation, Geschichten von Städten, Heimwärts und Original Kopie wird das Publikum durch den Wald von Konflikten des Landes geführt. Gentrifizierung, türkisch-kurdische und türkisch-armenische Geschichte und Gegenwart, die Gezi-Proteste von 2013, syrische Geflüchtete und der Status von Film in der Türkei werden damit aufgegriffen. „Dokumentarfilmer sind gleichzeitig Aktivisten, die sehr besorgt darüber sind, was in der Türkei passiert und welche Themen diskutiert werden müssen. Es ist kein Zufall, dass ein paar der größten Dokumentarfilmschaffenden mit harten politischen Themen arbeiten“, sagt Calafato. Dabei legen viele Regisseure in ihren Filmen die Bedingungen der Entstehung offen dar. Beispielsweise verarbeiten Ayce Kartal im Animationsfilm Backward Run (Tornistan, 2013) und Rüzgâr Buşki im-LGBTI Protestfilm #restistayol (#direnayol, 2016) nicht nur die Gezi Proteste aus dem Jahr 2013, sondern auch Strategien der Selbstzensur. “The film you are watching is self-censored”, so die Ankündigung in Buşkis Film. Durch das bewusste Aussetzen, glitch-artiges Transformieren in Ton und Bild und Kommentieren der auszulassenden Szenen stellen sich die Filmemacher*innen ihren Arbeitsbedingungen und rahmen so nicht nur andere Geschichten und Leben durch ihre Linsen, sondern reflektieren auch über sich selbst als Kunstschaffende in einem politischen Kontext. Andere Filmemacher*innen setzten sich über dieses hinweg und zeigen schlicht genau das, was sie inhaltlich zeigen wollen.
Filmemachen als politische Performance
Die häufigsten Fragen in den Q&A Sessions an die zahlreich erschienenen Filmemacher*innen waren die nach Zensur und Unterdrückung: ob dieser Film denn auch in der Türkei gezeigt werden könne und wie stark der Wille zum Auswandern sei – weniger die nach künstlerischen Entscheidungen. Die Reflexion über ihren eurozentrischen Blick blieb den Zuschauer*innen meist selbst überlassen. Viele der Filmemacher*innen wollen bleiben und weitermachen, wofür sie vom Publikum beklatscht wurden, andere wohnen in den großen Metropolen dieser Welt. „Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, wäre mir nicht nach Lachen zu Mute“, so ein Besucher der Diskussionsrunde zur Situation des Dokumentarfilms in der Türkei, da ihm die Stimmung auf der Bühne unter den türkischen und kurdischen Gästen anscheinend zu ausgelassen war. Başak Çallıoğlu, Gründerin und Leiterin von ARTVoltage, antwortete selbstbewusst: „Wenn Sie so verzweifelt sind, dann können Sie irgendwann nur noch lachen“ und klingt dabei wie ein ‚Burası Türkiye‘. Über die Schwierigkeiten der inhaltlichen Dimension eröffnen sich auf der Kommunikationsebene zwischen Besucher*innen und Gästen Fragen über Deutungshoheit, Identifikation und Zuschreibung.
Die Probleme, mit denen die Filmemacher*innen zu kämpfen haben, sind unter anderem die Finanzierung und Distribution der Filmprojekte. Zudem ist die neue Ministeriumslizenz, die türkische Filmemacher*innen für viele Filmfestivals in der Türkei beantragen müssen, eine Hürde. Ähnlich wie bei der Beantragung staatlicher Gelder ist die Chance, diese zu bekommen je nach politischer Brisanz der Thematik gering. „Die Zensur ist aber nicht systematisch, es kommt auf den Inhalt und die Situation an. Es ist die Ungewissheit, die das Hauptproblem ist“, so Kuratorin Özge Calafato. Ein Film, der im April 2016 auf dem IFF Ankara Festival zu einem Skandal geführt hat, weil er in letzter Minute vom Festival zurückgezogen wurde, ist I Remember (Bîra Mi’ Têtin, 2015) von Selim Yıldız. Der Film erzählt vom Tod der 34 Zivilisten an der türkisch-irakischen Grenze, die 2011 bei einem Luftangriff ums Leben kamen, weil sie für Kämpfer der PKK gehalten wurden. Zeynep Güzel, Koordinatorin des New Film Fund, merkt außerdem an, dass der Erwerb der Lizenz eine Legitimation der Zensur wäre. Selbstzensur ist die Folge ökonomischer, sozialer und politischer Zwänge und nicht ausschließlich ein türkisches Phänomen. Der New Film Fund ist eine Kooperation von Anadolu Kültür und dem !f Istanbul Independent Film Festival. Ziel ist es, eine unabhängige Filmförderung und Plattform für Vielfalt und Meinungsfreiheit zu schaffen, die vor allem auch internationale Koproduktionen ermöglichen soll. Damit findet die Publikumsfrage nach Möglichkeiten der Solidarität und Unterstützung ihre Antwort. Die Folge von internationalen Koproduktionen wäre allerdings, dass es keine türkisch gelabelten Filme mehr gäbe. Das hat ein Für und Wider, denn international produzierte Filme können die Ministeriumslizenz umgehen. Andererseits kann das nur eine vorübergehende Lösung sein, denn langfristig besteht die Gefahr, lokale Dokumentarfilm-Produktionen letztendlich ganz zu verdrängen.
Weiße Katzen und grünes Glas – Symbolisches auf dem DOK
Vier Filme des Länderfokus hat der New Film Fund mitfinanziert. Attention! (Hazır Ol!, 2016) von Onur Bakır ist einer davon. Er feierte internationale Premiere auf dem DOK Leipzig. Mit viel Witz und Feingefühl setzt der Regisseur sich auf sehr persönlicher Ebene mit den heiklen Themen Militär und Wehrpflicht in der Türkei auseinander. Für kurze Zeit konnten Männer über 27 Jahre, die noch nicht ihren Wehrdienst geleistet hatten, durch finanzielle Unterstützung ihre physische ersetzen. Onur Bakır stellt sich selbst vor die Entscheidung und fragt im Familien- und Freundeskreis um Rat. Die Antworten sind widersprüchlich, liebevoll, lustig, kritisch.
Auch zwei deutsch-türkische Produktionen waren zu sehen. In The Others (Ötekiler, 2016) erzählt Ayşe Polat mit klugen erzählerischen Mitteln die Geschichte um die ehemals armenische Provinz Van in Ostanatolien, die seit 1915 ein Ort der “Anderen”, der ethnischen Ausgrenzung, geworden ist. Die Van-Katze, eine weiße Katze mit einem grünen und einem blauen Auge, ist nur in dieser Region zu finden und gilt für Armenier*innen, Kurd*innn und Türk*innen gleichermaßen als kulturelles Symbol. Das Kinopublikum bekommt sie allerdings nur als übergroße Statur oder in einer Anlage zu sehen. Und so wird auch die dem verbindenden Element anfänglich innewohnende Hoffnung letztlich dekonstruiert.
Cem Kaya’s Film Remake, Remix, Rip-Off. About Copy Culture & Turkish Pop Cinema (Motör. Kopya kültürü ve popüler Türk sinemasi, 2014) dagegen beleuchtet die Arbeitsbedingungen der Yeşilçam-Film-Ära, die die türkische Filmgeschichte für nahezu vier Jahrzehnte maßgeblich prägte. Der Zeit- und Leistungsdruck brachte viele Filmemacher*innen dazu, sich an amerikanischen Vorbildern zu orientieren und sich gegebenenfalls nicht nur ihrer Erzählungen, sondern beispielsweise auch ihrer Musik zu bedienen. Eine Frage, die sich hier eröffnet, ist die nach kollektivem Erbe und der ökonomischen Verwertbarkeit durch Privatisierung solcher Meilensteine der Filmgeschichte. Im Rahmen des Festivals war mit diesem Thema der Ansatz einer filmischen Retrospektive zu erkennen. „Für eine andere Veranstaltung oder eine andere Gelegenheit wäre es schön, eine Retrospektive zu haben, also Dokumentarfilme aus den 80ern und 90ern“, fügt Özge Calafato hinzu.
Weltpremiere feierte Fırat Yücel’s Film Audience emancipated: The struggle for the Emek Movie Theater (Özgürleşen seyirci: Emek Sineması mücadelesi, 2016), ein Kollektivprojekt von Emek Bizim Istanbul Bizim und ebenfalls vom New Film Fund unterstützt. Gegen die Kommerzialisierung von Kunst und Kultur und für das Recht auf Stadt – das war der Protest 2010 für den Erhalt des Emek (tk.: Arbeit) Sineması am Taksimplatz. Tatsächlich mangelt es auch an unabhängigen Veranstaltungsorten, „90 Prozent der Kinosäle sind in Shoppingmalls untergebracht, die nur an kommerziellen Produktionen interessiert sind“, erklärt Özge Calafato.
Wie kurz der Weg von der Leinwand in die Wirklichkeit ist, zeigte sich am Freitag, den 04. November, als die Gruppe der anwesenden Filmschaffenden als Reaktion auf die neuesten Festnahmen von Journalist*innen und Oppositionspolitiker*innen in der Türkei zur Solidarität aufriefen und sich vor dem Festivalzentrum für eine Protestaktion versammelten. Der kurdische Filmemacher Kazım Öz, der bei seinem Film Once upon a Time (He bû tune bû, 2014) eine kurdische Familie bei ihrer Lohnarbeit auf einem Feld vor Ankara begleitet hatte, hielt eine Ansprache und ermahnte dazu, nicht wegzusehen.
„Das war eine kollektive Entscheidung“, sagte Özge Calafato, die am Ende des Festivals zufrieden auf den Verlauf des Türkeifokus und ihre Zusammenarbeit mit DOK Leipzig blickt. Etwas erstaunt habe sie allerdings, dass sich die großen kurdischen und türkischen Gemeinschaften in Deutschland noch nicht im Publikum widergespiegelt hätten – „wir sollten die Chance auf Austausch und Perspektivwechsel im Auge behalten“. Der alljährliche Länderfokus ist ein Spotlight, ein kurzer politischer Aufschrei für die Dauer des Festivals, der zwar die Blicke zu lenken vermag, durch die Festlegung auf den Nationenbegriff aber auch polarisieren kann. Zumal die Filme des Länderfokus, bis auf Leyla Topraks berührend-starker Film Distant… (Dûr e…, Uzak mı…, 2016) über die Widerstandskämpferinnen im syrischen Kobane nicht am Filmwettbewerb teilnahmen; sich dadurch also auf der einen Seite ihrer wettbewerblichen Verwertbarkeit entziehen, auf der anderen Seite eben als ein Außen, ein Zusätzliches, gehandhabt werden. Nichtsdestotrotz ist es eine große Gelegenheit für die türkischen und kurdischen Filmschaffenden gewesen, sich international zu vernetzen und sich und ihre Filme einem großen Publikum zu zeigen. Die Wirklichkeit ist wohl komplizierter. Potentiale des türkischen Dokumentarfilms sieht Calafato vor allem in einem: „Es gibt großartige Geschichten, die noch nicht erzählt wurden, und großartige Filmemacher.“ Nun haben uns die Filmemacher*innen zweierlei bewiesen: ihr künstlerisches Talent und ihren Ungehorsam.
Text: Aylin Michel
Bilder: DOK Leipzig
Redaktion: Marie Lemser