Dieses Interview gibt es auch in türkischer Sprache hier! Türkçe
Statt eines Tees trank Dinçer einen Aperol Spritz und statt auf niedrige Hocker in Tarlabaşı setzten wir uns für das Gespräch ins Türk Alman Café am Ende der Istiklal Caddesi. Die Künstlerin Bedia Ekiz war auch dabei und half mir, in einem Gemisch aus Türkisch und Englisch, das Interview zu führen. Das Handy steckte zur Aufnahme in einer Zuckerdose, mein Notizbuch lag aufgeschlagen mit seitenweise Fragen auf dem Holztisch. Den Çay gab es dann später doch, am Straßenrand in Tarlabaşı, dem Stadtteil Istanbuls, in dem Dinçer fast täglich unterwegs ist, Menschen trifft und Momente festhält mit seinem iPhone.
Dinçer İşgel ist 33 Jahre alt und nennt sich selbst Videokünstler oder genauer: dokumentarischer Videokünstler. Sein Freund Ozan, den wir zufällig im Café treffen, beschreibt ihn mit zwei Worten: Intuitiv und impulsiv. Zwei Eigenschaften, die charakteristisch sind für seine künstlerische Arbeit.
In Tarlabaşı, dem als “Slum” bekannten Teil Istanbuls, wohnte Dinçer sieben Jahre lang und hat es sich nun zu seiner Aufgabe gemacht, das Leben, die Menschen, die Persönlichkeit dieser Nachbarschaft festzuhalten und als Erinnerung zu bewahren. Mit realistischen, spontanen und persönlichen Momentaufnahmen versucht er, Tarlabaşı vor der schleichenden Gentrifizierung, wenn auch nur digital, zu bewahren.
Wie nennst du deine künstlerische Arbeit?
Meine Filme sind dokumentarisch, da ich natürliche Momente auf der Straße filme und keine gestellten Szenarien filme. Ich glaube, dass die Leute deswegen meine Videos so mögen, weil sie die Natürlichkeit, den Realismus, die Einfachheit darin finden und wertschätzen. Ich würde mich als Videokünstler bezeichnen, oder als dokumentarischer Videokünstler.
Wieso benutzt du dein Handy und wieso machst du Videos statt Fotos?
Ich habe früher eine Digitalkamera benutzt, aber dann war das Gerät immer im Weg. Wenn ich mich mit der Kamera zu lange beschäftigen muss, ist der natürliche Moment schon vergangen. Es ist so ein flüchtiger Moment, den ich einfangen möchte. Deshalb ist es mit dem Handy schneller und unbeeinflusster. Ich nehme das Video auf und frage danach erst, ob ich es verwenden kann. Ansonsten wird der natürliche Moment schon vorher durch die Kamera oder das Fragen für Erlaubnis zerstört.
Kannst du ein bisschen von deinem Prozess erzählen? Was interessiert dich auf der Straße?
Das normale Leben. Eigentlich sieht jeder, was ich sehe und filme. Die Straße, die Momente, die Menschen. Aber niemand sieht genau hin, niemand schaut bewusst oder mit dem Herzen.
Was fasziniert dich an Tarlabaşı?
Ich habe sieben Jahre in Tarlabaşı gelebt. Die Menschen sind liebenswert, warm und natürlich.
Gibt es ein bestimmtes Motiv oder ein Thema deiner Arbeit?
Es gibt kein bestimmtes Thema, ich filme alles spontan, aus einer Eingebung heraus. Sobald ich ein Thema hätte, würde die Natürlichkeit verloren gehen. Ich lebe einfach meinen Tag und filme alles, was die Persönlichkeit einer Person zeigt oder was das reale Leben zeigt.
Wie reagieren die Menschen auf die Videos bzw. auf dich?
Sie fragen, warum ich sie filme. Und ich sage ihnen: Weil du so natürlich und so schön bist. Ich möchte diesen Moment festhalten, mich an ihn erinnern können.
Was möchtest du anderen Menschen über Tarlabaşı zeigen oder erzählen?
Tarlabaşı ist ein multikultureller Ort. Dort wohnen auch afghanische Menschen, syrische Menschen. Alle helfen einander, leben zusammen, sind wie Geschwister. Es gibt keine Hierarchie.
Sie leben wie in einem Kollektiv. Leute fürchten sich ein bisschen, nach Tarlabaşı zu gehen, aber es ist kein gefährlicher Ort. Tatsächlich sind die Leute selbst Schuld daran: sie machen anderen Angst und verbreiten Gerüchte oder Geschichten über Tarlabaşı oder andere ähnliche Orte. Wenn ein Ort beliebter wird, verändert er sich. Aber es ist kein gefährlicher Ort.
Warum Instagram als Plattform für deine Kunst?
Nun, es hat als Hobby angefangen. Ich war viel unterwegs, hab viel gefilmt und wollte es mit Menschen teilen. Und es hat ihnen gefallen.
Ich hab immer vertikal gefilmt und Freunde meinten zu mir: Warum filmst du hochkant? Halte es anders rum. Aber ich hab weiter vertikal gefilmt. Dann hat Instagram die Reel-Funktion eingeführt. Reels waren ein Geschenk von Instagram an mich. Danach explodierte mein Kanal.
Mit den Reels kam auch Musik dazu. Es verändert, wie man die Realität auf den Videos wahrnimmt, romantisiert die Momente und was man damit assoziiert. Was bedeutet die Musik in deinen Videos?
Das Video ist der reale Moment, ein reales Gefühl. Die Musik verstärkt dieses Gefühl. Zuerst erlebe ich meinen Tag, filme Momente. Danach schaue ich mir die Videos in der Gallerie an und suche nach Musik. Welche Musik berührt mein Herz, welche gibt mir Gänsehaut? Welche Musik zu meinem Gefühl an diesem Tag passt. Dann beginne ich mit der Bearbeitung des Reels. Die Musik ist also eine Reflektion des Gefühls am Tag.
Und wie entscheidest du über die Titel „Zaman“ oder „Mutluluk“?
Wenn ich das fertige Video/Reel anschaue, dann finde ich ein passendes Wort. Das, was den Tag, die Momente zusammen fasst. Manchmal rede ich auch mit Freunden darüber. Wir reden über Erinnerungen, reale Gefühle, nicht fake Gefühle und wir finden zusammen ein Wort.
Welche Länder würdest du noch gerne bereisen?
Indien, Iran, Pakistan.
Welche Rolle spielt die Sprache? Dass ihr beide die gleiche Sprache und Kultur teilt?
Die Sprache ist nicht wichtig. Wenn wir malen, zeichnen, fotografieren, ist gesprochene Sprache nicht wichtig. Das Visuelle ist unsere Sprache. Wenig Worte, sondern Bauchgefühl. Intuition.
Ein Freund (Ozan), den Dinçer zufällig im Café trifft, setzt sich zu uns an den Tisch.
Ozan: Ich würde Dinçer in zwei Worten beschreiben: Intuitiv und impulsiv. Ich habe es selbst auch erlebt mit Sebastian, unserem gemeinsamen Freund. Dinçer versteht kein Englisch und Sebastian spricht kein Türkisch. „Beste Freunde“ wirft Dinçer ein. Es ist so kompliziert, aber sie kommunizieren trotzdem. Sie machen Witze zusammen, sie weinen zusammen. Es ist viel Körpersprache und Dinçer hat auch seine eigene Energie.
Wie hat der Erfolg auf Instagram dein Leben, deine Zukunftspläne beeinflusst?
Dinçer ist immer noch der Gleiche. Natürlich gibt kleine Veränderungen. Leute stoppen mich auf der Straße und ich freue mich darüber.
Ozan: Aber vor langer Zeit war Dinçer schon bekannt. Er war ein Berühmter in den Sozialen Medien. So vor fünf, sechs Jahren. Du warst ja schon ein Phänomen so bei Twitter und so. Und damals teilte er ja auch schon seine Arbeiten online. Aber ja, während der Pandemie startete es dann wirklich.
Was ist dir wichtiger? Exklusiv in einer Galerie ausgestellt zu werden oder uneingeschränkt für ein breites Publikum auf Instagram zu zeigen?
Keins ist besser als das andere. Beide haben Vorteile, Soziale Medien und Ausstellungen. Ausstellungen inspirieren ihn, zusammen mit anderen Künstlerinnen auszustellen. Ich lasse es offen. Die Leute folgen mir schon bei Facebook und Instagram. Wenn sie die Ausstellung sehen wollen, sind sie willkommen. Ich kann auch exklusive Projekte oder Ausstellungen für Galerien machen. Beides gleichzeitig, bzw. gleichwertig.
Wie kam die Zusammenarbeit mit Anna Laudel zustande?
Die Kuratorin von Anna Laudel, Ayça Okay heißt sie, kontaktierte mich. Sie fragte mich ob ich an dieser Ausstellung teilnehmen möchte und ich sagte sehr gerne zu. Anna Laudel ist eine gute Galerie in Istanbul und hat zwei Zweigstellen in Deutschland. Das hat mir sehr gefallen und dann habe ich dieses Video aufgenommen und ausgestellt. Es hat sehr positive Rückmeldung erhalten.
Was ist dir besonders in Erinnerung geblieben? Ein spezieller Moment oder eine bestimmte Person?
Ich erinnere mich an alle Details, Momente. Wie mit einem Tagebuch. Ein Tagebuch der Vergangenheit.
Einmal war ich in einem Han (Gasthaus, Karawanserei) in Eminönü (alter Stadtteil in Istanbul) Das war schon ein gefährlicher Ort. Da war ich dann am , fotografieren und Videos aufnehmen als Männer kamen und mich mit in einen Raum genommen hat. Sie fragten mich wer ich bin, ob ich ein Polizist bin, warum ich die Aufnahmen mache. Ich hatte wirklich Angst. Angst, dass sie mir echt etwas antun würden. Dann habe ich halt ein zwei Stunden lang versucht sie umzustimmen. Ich versuchte ihnen zu erklären, dass ich kein Polizist sondern Fotograf bin und zeigte ihnen auch mein Instagram.
Ozan: Und was ist am Ende passiert?
Haben sie dich gehen lassen?
Dann kam deren Freund und meinte ich kenne diesen Typen. Ich folge dem auf Instagram.
Ozan: Sie glaubten ihm und ließen dich gehen?
Bestimmt haben sie dir einen Kebap und Tee ausgegeben.
Wir haben zusammen eine geraucht.
Erzähl uns gerne noch etwas über dein laufendes Projekt.
Nächste Woche reise ich zusammen mit meiner Künstlerfreundin Bedia Ekiz nach Konya. Wir treffen eine Familie der Yörüks [Yörük stammt übrigens von yürümek, was auf Türkisch laufen oder wandern bedeutet]. Bedia Ekiz ist Teil dieses Nomadenstamms. Wir leben und reisen mit ihnen für eine Woche und dokumentieren ihr Leben. Spontan. Fast wie eine Dokumentation. Wir wollen eine Ausstellung machen mit Videos, Zeichnungen von ihr und auch Objekten, die wir unterwegs sammeln.
Nach dem einstündigen Gespräch ziehen wir los, laufen die vor Menschen berstende Istiklal Straße entlang, versuchen uns über den Lärm der Menschen hin zu unterhalten und biegen dann irgendwann links ab. Wie für Großstädte so typisch, verändert sich mit einer Kreuzung, einem Straßenwechsel die ganze Atmosphäre. Plötzlich ist es leer, ruhig und das Leben auf der Straße ein ganz anderes. Kinder spielen hockend mit einem Ball am Rand des Bürgersteigs, eine Frau zieht ruckartig an der Wäscheleine, die sich von Haus zu Haus spannt, ein älterer Mann im weißen Unterhemd steht, eine Zigarette rauchend, am Fenster und mittendrin Dincer, dessen Auge all diese kleinen, realen Momente nicht nur kurz wahrnimmt, sondern darauf verweilt.
Direkt hat er sein iPhone aus der Hosentasche gezogen und auf Aufnahme gedrückt. Er durchstreift Tarlabaşı mit suchenden Augen und neugierigem Blick. Wenn ihm etwas auffällt, was interessant genug zum Filmen ist, beschleunigt er seine Schritte und wirkt wie magisch von der Situation oder Person angezogen. Manchmal fragt er vorher um Erlaubnis, manchmal danach, manchmal steht er im Schatten eines Hauses verborgen, manchmal mitten im Straßenverkehr.
Er schüttelt Hände hier, hält ein kurzes Pläuschen da und nimmt beim Vorbeigehen einen Corgi eines Freundes für eine Weile auf dem Arm. Zum Tee trinken sitzen wir auf den Hockern neben anderen Männern, die uns nach einer Weile Zigaretten zum selbst drehen anbieten. Natürlich nimmt Dincer dankend an und verwickelt sie kurz in ein Gespräch. Dann klingelt sein Handy: Er hat ein Fernsehinterview am nächsten Tag und will vorher noch zum Friseur.
Interview & Fotos: Marie Konrad
Übersetzung: Ezgi Beyazgül
Redaktion: Marlene Resch & Zeynep Ünal