Im Klappentext des Kurzgeschichtenbandes “Die Frauen von Istanbul” von Gaye Boralıoğlu stößt der/die Leser*in auf eine Passage, in der es heißt “Vater, mein ganzes Leben sei dir gewidmet.” Wie ist das denn, wenn wir unser ganzes Leben einer Person widmen? Ist das eine ganz große Liebe oder eine der sogenannten toxischen Beziehungen? Alle der 13 Kurzgeschichten in dem Band “Die Frauen von Istanbul” drehen sich um Frauen und ihre Leben dominierenden Beziehungen. Vorwieglich Beziehungen zu Männern, aber nicht ausschließlich. Die Beziehungen der 13 sehr unterschiedlichen Protagonistinnen sind so divers, wie das Stadtbild Istanbuls selbst.
Es geht zum Beispiel um Mi Hatice, deren Mann während der alltäglichen Metrofahrt nach Hause neben ihr stirbt. Als das Paar ihre finale Haltestelle erreicht, steigt Mi Hatice einfach aus und lässt ihren toten Ehemann weiterfahren. Boralıoğlu erzählt von einer Reisköchin, die mit 15 verheiratet wurde, damit die Familie “einen Esser weniger hat”, und sich viele Jahre später vor Gericht der Anklage stellen muss, 123 Menschen vergiftet zu haben, inklusive ihres eigenen Mannes. Oder von Nurhayat, die ihren gewalttätigen Ehemann umbringt.
Es gibt auch wahrhaftige Lieben in den 13 Kurzgeschichten. Die Liebe einer Tochter zu ihrem inhaftierten Vater zum Beispiel oder “Alis Frau”, die sich vor Sehnsucht nach dem Meer verzehrt, bis sie in Alis Augen schaut. Doch Ali wird vom Militär eingezogen und kehrt als gebrochener Mann zurück. Nur seine Frau kann ihn retten, indem sie sich selbst die Beine abhackt, als er aus dem Krieg ohne wiederkommt, und sich so mit ihm solidarisiert. Ob dies nun als romantische Geste verstanden werden soll oder ob in Frage gestellt wird, dass eine Frau sich aus Solidarität die Beine abhackt, damit sich ihr geliebter Ehemann mit seiner Frau wieder gleichwertig fühlt, bleibt der Interpretation der/des Lesers*in überlassen.
Poetische, manchmal phantastische Bilder
Die Autorin hat mich wirklich beeindruckt. Mit diesen 13 Kurzgeschichten entsteht ein Querschnitt durch die Gesellschaft, der Minderheiten nicht ausklammert und die Ungerechtigkeiten, die ihnen widerfahren, nicht verschweigt. Auch die gleichgeschlechtliche Liebe lässt sie nicht aus. Boralıoğlu beweist nicht nur in Aufbau und Thematik, sondern auch sprachlich in jeder der Kurzgeschichten einen besonderen Schreibstil, der sich durch poetische, manchmal phantastische Bilder auszeichnet. Mal kommt die Geschichte in der Ich Perspektive, mal in der auktorialen und dabei ist sie sprachlich pointiert. Es gibt kein Wort zu viel, jeder Satz ist Teil eines Bildes, das im Kopf der/des Lesers*in beim Weiterlesen zunehmend Kontur erhält. Nur ganz selten driften die Bilder in Richtung Kitsch. Wem der Kitsch nicht gefällt, der verzeiht ihr diesen Exkurs bereits im nächsten Satz wieder und wem er gefällt, der erfreut sich daran.
Interesse an einer diversen Gesellschaft
Die Autorin schreibt mutig gegen gesellschaftliche Konventionen und wehrt sich gegen Konservatismus, wenn er bedeutet, dass Frauen und Minderheiten in der Gesellschaft die Leidtragenden dieser vermeintlichen „idealisierten Werte“ sind. Die Autorin ist selbst 1963 in Istanbul geboren. Wegen ihrer politischen Vorstellungen wurde sie nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 verhaftet. Ihr gesellschaftliches Engagement und Interesse an einer diversen Gesellschaft zeigt sich nicht nur in ihrem Schreiben. An der Gründung verschiedener zivilgesellschaftlichen Organisationen war sie beteiligt. Boralıoğlu sagte selbst in einem Interview 2018 mit der Süddeutschen, dass ihr das Schreiben in dunklen Phasen schwer falle. Während sie ständig Nachrichten bekäme, dass Freunde und Bekannte unschuldig verhaftet würden, hinterfrage ihr Gewissen den Text, an dem sie schreibt.
Die Gedanken einer Frau
Mit Blick auf die Istanbul Konvention sind die Themen ihres Kurzgeschichtenbandes aktueller denn je. Die Türkei hatte im März diesen Jahres das Abkommen des Europarates aus dem Jahr 2011 zum Schutz gegen Gewalt an Frauen und vor häuslicher Gewalt wieder verlassen. Oft stoßen beim Lesen Formulierungen auf, die das Verhalten der Männer irgendwie zu entschuldigen versuchen. „Eigentlich ist Mustafa kein schlechter Mann, doch er ist ein wenig grob.“ Auf diese Weise deckt Boralıoğlu geschickt die Gefahr auf, in der sich Frauen oft befinden. Sie relativieren mit diesen Entschuldigungen die Gewalt, die ihnen angetan wird. Möglicherweise geht es Boralıoğlu aber auch gar nicht um diese Relativierung mit der Absicht den Mann zu schützen. Möglicherweise gibt sie nur Einblicke in die Gedanken einer Frau, die sich nicht wehren kann, aus welchen Gründen auch immer. So erzählt Boralıoğlu zum Beispiel von der Träumerin, die sich vorstellt mit einem knarrenden Schaukelstuhl gegen das Schweigen ihres Mannes zu rebellieren. Oder von der einen von den „Zwei Verkäuferinnen“, die selbst Schuld ist, dass die Männer sie heiraten möchten, da sie ihnen ständig schöne Augen macht.
Die letzte Geschichte ist die grausamste. In ihr greift Boralıoğlu Kindesentführung, Vergewaltigung und Mord auf. Mit der Eröffnung dieses, in diesen 13 Kurzgeschichten wohl qualvollsten Themas, stellt sie im letzten Satz des Bandes die Existenz Gottes nicht gänzlich in Frage, doch betont, dass von Gott in dieser Dunkelheit nur noch ein Schatten bleibt.
Wem widmen wir unser Leben
“Die Frauen von Istanbul” ist eine sehr empfehlenswerte Sammlung von Kurzgeschichten, die nicht nur für Frauen in und aus Istanbul interessant zu lesen sind. Sie sind Kurzgeschichten für alle Frauen dieser Welt, damit wir uns mit unseren Nöten gegenseitig sehen und unterstützen. Und auch Männern kann die Lektüre nur empfohlen werden, um die eigene Pflicht zu erkennen, für das Wohlergehen und die Gleichberechtigung von Frauen zu kämpfen. Ein ausgesprochen aktuelles, diverses Werk und ein Anstoß zu emanzipatorischen Gedanken.
Einzig das Cover des Größenwahn Verlag zeigt leider nur ein Bild von Frauen. Vielleicht eins, dass Menschen aus Deutschland, die Istanbul nicht kennen und eine konservative Stadt mit verschleierten Frauen erwarten würden, überrascht, aber kein Titelbild, dass der Diversität der Geschichten gerecht wird.
So lässt Boralıoğlu den/die Leser*in mit 13 Schicksalen von Frauen zurück, deren Leben auf eine Art und Weise immer den Männern gewidmet waren. Männern, die sie nicht lieben, aber trotzdem mit ihnen verheiratet sind, Männer, die sie lieben lernen müssen, um das Leben mit ihnen zu ertragen oder Männer, die sie umbringen, um selbst wieder existieren zu können ohne Gewalt zu erfahren. Wir Leser*innen bleiben zurück mit der Frage: wem widmen wir unser Leben? Und mit der Mahnung, dass wir darauf gut Acht geben sollten.
Text: Carina Plinke
Titelbild: Marie Konrad