Manchmal habe ich das Gefühl, zwei zu sein. Niemals eins sein zu können. Durch Sprache meine Identität zu bekommen – und durch zwei Sprachen zwei Identitäten. Wie hält man das aus, in einer Welt, die Identität immer im Singulären begreift?
Ich bin groß geworden mit zwei Sprachen. Deutsch war die Sprache meiner Mutter, ihrer Eltern, sie war, nein, sie ist die Sprache von Geborgenheit und von Zuhause. Türkisch war die Sprache meines Vaters, sie war die Sprache der Angst, der Wut, der Unsicherheit. Türkisch war die Sprache seiner Eltern, seines Dorfes, des Meeres, der Natur. Und Türkisch war die Sprache meiner Schwester. Sie war die Sprache, in der ich sie zuerst wahrnahm, sie war die Sprache in der ich beobachtete, wie sie in der Welt ankam, die Sprache in der wir kommunizierten, ich sie liebte.
Und obwohl mein Vater ging und mit ihm ein großer Teil der Angst, blieb Türkisch. Türkisch bleibt, als Sprache der Ungreifbarkeit, der Ungewissheit. Es bleibt, als mein unsicherer Boden. Auf dem ich Fehler mache, mich entblöße, mich immer wieder klein und verletzlich fühle, dem ich versuche hinterher zu rennen, um das ich kämpfe, den ich nie erreiche. Eine Sprache, in der ich mich immer wieder als Fremde entpuppe und nach der ich mich gleichzeitig so sehr sehne. Sie bleibt, als Sprache meiner Sehnsucht.
Aktuell lebe ich in Deutschland, Und ich spreche. Ich nutze Sprache um zu zeigen, dass ich da bin, um mich bemerkbar zu machen, um laut zu sein, um mich auszudrücken, um mich zu zeigen. Und ich nutze Sprache um zuzuhören, um aufzunehmen, um wahrzunehmen, um zu filtern. Meine Schwester und ich teilen nun Deutsch als unsere Sprache. Mit meiner Mutter spreche ich Deutsch, mit meiner Oma spreche ich Deutsch, mit meiner Familie teile ich diese Sprache, mit meiner engsten Freundin auch. So verfestigt sich diese als Ort der Geborgenheit. Sie ist meine Sprache der Sicherheit, des Vorhersehbaren, der Klarheit, des Rückzuges, sie ist mein Zuhause.
Türkisch bleibt bei Freund*innen, bleibt bei Telefonaten, bleibt bei Musik, bleibt bei Besuchen. Und dabei bleibt sie die Sprache des niemals ganz Ausdrückens. Diese Unsicherheit, diese Angst, von der ich mich so gern losgelöst wissen würde, sie bleibt immer Teil meines Selbst.
Beide Sprachen bilden meine Identität. Jede Sprache fühlt sich wie ein Entscheiden an, nicht nur für die Worte, die ich wähle, sondern für die Identität, die ich wähle zu sein. Sprache wird damit für mich zu einer Grenze. Einer Linie, die mich teilt. Die teilt, wie ich mich ausdrücken kann und wem ich mich ausdrücken kann. Die bestimmt, was ich fühle und wie andere mich fühlen. Wie können diese beiden Sprachen, die meine Identität strukturieren, so widersprüchlich sein und gleichzeitig in ihrem Nebeneinander erst mir ein Gefühl von Vollständigkeit geben?
In meinem Studium wird oft von Hybridität gesprochen. Ein Raum, der Grenzen überschreitet, der binäre Strukturen aufbricht, aufhört in Gegensätzen zu denken. Ein Raum, der nicht definiert, nicht kategorisiert und eben nicht benannt werden kann, der nicht mit Worten greifbar oder sichtbar gemacht wird. Der nicht von Sprache erfasst werden kann. Ob ich da wohl vollständig bin? Ob meine Identität, nein meine Identitäten dort nebeneinander sein können, ohne sich gegenseitig auszuschließen? Wie ist eine Gesellschaft, wie ist ein gegenseitiges Wahrnehmen möglich, wenn wir uns in diesen Raum bewegen?
Vielleicht macht er uns Angst? Weil er Grenzen sich auflösen lässt, Kategorien zerfallen und uns in einem Schwebezustand der Unsicherheit, des Nicht-Greifen-Könnens zurück wirft. Oder können wir es wagen, diesen Ort auszuhalten oder gar zu genießen? Können wir lernen uns ohne eine strukturierende und damit uns immer auch begrenzende, beschränkende, einengende Sprachen wahrzunehmen? Können wir beginnen Identität im Plural zu begreifen?
Manchmal ahne ich dieses Gefühl, wenn meine Schwester und ich zu unseren Kinderliedern tanzen, wenn ich mit meinem ältesten Freund zu griechisch-türkischer Musik Wein trinke, ich kann es ahnen, wenn meine Mutter plötzlich lacht, weil sie den Witz auf türkisch doch verstanden hat, wenn eine Freundin genau fühlt, was ich mit üşenmek meine, während wir in meiner Berliner Wohnung Zitronenkuchen in Milchkaffee tunken, wenn ich mit meiner besten Freundin, Worte auf Persisch mit Türkisch vergleiche und dabei die Ärzte höre, wenn Chefket auf türkisch rappt oder gar Herbert Grönemeyer von Doppelherzen singt und mein Lieblings-Onkel, mit seiner warmen Bassstimme leidenschaftlich einstimmt.
Text: Anonym
Illustration: Eva Feuchter