Drei Journalist*innen haben sich mit dem „Arbeiterstrich“ am Münchener Hauptbahnhof und der Situation der türkischen Bulgar*innen dort beschäftigt. Eine Dokumentation zeigt die Ergebnisse ihrer Recherche. Und direkt stellt sich unser Autorin die Frage: Was hat das mit mir zu tun? Sehr viel.
Der Wecker klingelt Montag bis Freitag um sechs Uhr. Aufstehen, duschen, frühstücken, Zähne putzen, Bahn fahren. Die immer gleichen wiederkehrenden Routinen, die manchmal nerven, mir zuwider sind, aus denen ich raus will. Doch spätestens Ende des Monats werde ich für die Routine entlohnt, als Lehrerin doch auch recht gebührend. Ich darf gelassen sein, darf nachts ruhen, weil ich ungefähr weiß, wie das Leben weitergeht- auf jeden Fall mit einem angemessenen Lohn, der mir viele Türen öffnet.
Gleichzeitig stehe ich als Lehrerin vor vielen Kindern, deren Eltern sich und somit auch ihre Kinder niemals in dieser Sicherheit wiegen können, weder in einer finanziellen noch in der Frage der identitären Zugehörigkeit. Als Klassenlehrerin einer sogenannten „Vorbereitungsklasse“ unterrichte ich auch die Kinder von türkischen Bulgaren, einer Gruppe von Menschen, die das Interesse der Journalist*innen Malcolm Ohanwe, Sümmeyye Uğur und Nadja Armbrust geweckt hat.
Die drei haben sich gefragt, wo die Menschen, die jeden Morgen ab etwa 7 Uhr in der Früh auf dem sogenannten „Arbeiterstrich“ am Münchener Hauptbahnhof stehen, eigentlich herkommen. So begann eine Recherche, aus der die Dokumentation „Die Unsichtbaren – Was türkische Bulgaren am Münchener Hauptbahnhof suchen“ hervor ging. Im Sommer 2019 wurde der Film im BR erstmalig ausgestrahlt, auf YouTube ist er nun zu sehen.
Ein Großteil der Menschen auf dem „Arbeiterstrich“ sind türkische Bulgaren, die meisten von ihnen kommen sogar aus dem gleichen Dorf: Pasardschick in Zentralbulgarien. Sie kommen alle aus demselben Grund nach Deutschland. Sie haben Sehnsucht nach Zuversicht im Leben. Der Wunsch, durch mehr Einkommen und einer besseren Gesundheitsversorgung einen besseren Lebensstandard zu erreichen, treibt sie in die Arbeitsmigration.
Früh am Morgen warten die türkischen Bulgaren in der Nähe vom Münchener Bahnhof darauf, mitgenommen zu werden. Sie warten auf einen Job. Wenn sie Glück haben, dürfen sie putzen. Das sei die leichteste Arbeit, sagt Angel in der Dokumentation. Die Arbeit auf dem Bau möchten sie alle am Bahnhof am liebsten vermeiden, weil es zu gefährlich sei. Wenn es gut läuft und man Glück habe, werde man am nächsten Morgen von dem gleichen Unternehmen wie am Vortag mitgenommen.
Aber was sind das eigentlich für Unternehmen, die morgens am Arbeiterstrich vorbei fahren und Arbeiter aufsammeln? Malcolm sagt, dass es häufig deutschtürkische Subunternehmen sind, hauptsächlich türkische Restaurants, Imbissbuden oder Supermärkte. Türkisch ist die Verständigungssprache auf dem Arbeiterstrich. Für die Subunternehmen ist es einfacher, Menschen am Arbeiterstrich aufzusammeln, die visafrei nach Deutschland einreisen und hier arbeiten dürfen, als über viele bürokratische Hürden hinweg Menschen aus der Türkei anzuwerben. Die Subunternehmen sparen durch diese Methoden natürlich Ausgaben bei der Bezahlung ihrer Mitarbeiter.
Ausschließlich Vorteile bietet der Arbeiterstrich für die Unternehmen jedoch auch nicht. Viele der Tagelöhner kommen ohne Ausbildung nach Deutschland, können oft weder lesen noch schreiben. Daher liegt der Fokus auf den körperlichen Tätigkeiten. Die Unternehmen brauchen aber auch Arbeiter mit Kenntnissen, Fliesenleger oder Mauerer zum Beispiel. Dies bekommen die Unternehmen auf dem Arbeiterstrich nicht. Das einzige Auswahlkriterium dort ist, ob jemand danach aussieht, als ob er anpacken könnte, oder nicht.
Malcolm, Nadja und Sümeyye wollten aber nicht nur in die Bedingungen auf dem Arbeiterstrich Einblick geben, sondern auch die Menschen, die sich hinter den Tagelöhnern verbergen, kennen lernen. Warum lässt man sich auf ein solches Leben ein? Gibt es in Bulgarien keine Alternative?
Während des Drehs begleiten sie vor allem zwei Personen, deren Familien sie in Bulgarien besuchen möchten: Angel und Zirpko, dessen Frau ebenfalls in Deutschland arbeitet. Die gemeinsame Tochter Ürmüs lebt aber in Bulgarien. Es stellt sich in Bulgarien heraus, dass Angel keine Tochter hat, Ürmüs aber dürfen die drei Journalist*innen kennen lernen.
Die Armut in Ürmüs Viertel wird auf dem Weg zum Haus der 13- Jährigen sehr anschaulich: Müll, Gestank und die Warnung, nicht ohne einen Einheimischen durch das Dorf zu gehen. Zu gefährlich.
Dem Leben und der Identität der türkisch-bulgarischen Bevölkerung wird ein großes Misstrauen nicht nur seitens der Mehrheitsgesellschaft Bulgariens, sondern auch eines Großteils der gesamten Weltbevölkerung entgegen gebracht. Diskriminierung, Intoleranz begegnen der Bevölkerungsgruppe täglich. Fortwährend müssen sie sich der Auseinandersetzung mit ihrer Identität stellen, wenn andere sie Roma oder beleidigend „Zigeuner“ nennen, sie sich selbst aber eigentlich als Türken fühlen.
Als Deutschtürke möchte man mit den Menschen, die häufig als Analphabeten kommen und als Tagelöhner arbeiten, nicht in Verbindung gebracht werden, sagt die Journalistin Sümeyye. Außerdem unterscheide sich die Kultur, das Erscheinungsbild und der Dialekt von den Menschen in der Türkei. Sümeyye stellt bei ihrem Besuch in Bulgarien fest, dass es in dem türkisch bulgarischen Dorf weder eine Teekultur gibt, noch dass sie zum Essen eingeladen werden, wie es in der Türkei üblich ist.
Es hat einen bitteren Beigeschmack, wenn aus vielen persönlichen Erfahrungen der türkischen Bulgaren herausgelesen werden kann, wie stark Gesellschaften noch Zugehörigkeiten zu Nationalität und Kultur an Blutsverwandschaft und genetischem Erbgut festmachen. Auch optische Attribute spielen noch eine dominierende Rolle. Die „weißen“ Bulgaren haben starke Ressentiments gegen die „dunklen“ Bulgaren, die sich selbst als Türken bezeichnen. Ihnen wird die Teilhabe an öffentlichen Freizeitangeboten bis hin zu der Möglichkeit, ihre türkische Muttersprache an der Schule zu lernen, verwehrt, berichtet Sümeyye. Gleichzeitig wird das Verhalten der türkischen Bulgaren von Misstrauen und Widerwillen gegen die „weiße“ Mehrheitsgesellschaft in Bulgarien bestimmt. So ergeben sich oft Konflikte, die auf die Herkunft der türkischen Bulgaren zurückgeführt werden. Die tragenden Aspekte, wie Ausgrenzung, Diskriminierung, Armut werden leichtfertig übersehen.
Aber kann man denn erwarten, dass eine Minderheit einer Mehrheitsgesellschaft Respekt entgegenbringen, die ihre Rechte und Bedürfnisse missachtet? Oder überwindet man bei Missachtung der eigenen Identität nicht die Schwelle zu Beleidigungen bis hin zur Kriminalität tatsächlich viel leichter?
Und auch die türkeistämmmigen Türken werfen möglicherweise keinen historischen Blick in die Geschichte des Osmanischen Reichs und die Verwobenheit zwischen ihnen und den türkischen Bulgaren. Zu tief sitzt die Furcht davor, mit den überall auf der Welt verbreiteten Assoziationen mit Roma in irgendeiner Weise in Verbindung gebracht zu werden.
Zum Schluss bleibt zu sagen, dass die Menschen auf dem Arbeiterstrich eigentlich nicht wirklich unsichtbar sind. Ihre persönlichen Geschichten aber schon. Das macht die Dokumentation wichtig. Die Mehrheitsgesellschaft nimmt die Migranten*innen zwar in ihrem Stadtbild wahr, mit der Armut und Tragik der Menschen aus Osteuropa möchten die industriestarken mitteleuropäischen Länder und ihre Bürger*innen tendenziell aber ungern konfrontiert werden. Deshalb braucht es Menschen wie die drei Journalist*innen, die auf sie zugehen und Fragen stellen und sie durch eine solche Dokumentation in ein öffentliches Licht rücken. Es liegt am Ende vor allem an uns, diesen Themen Bedeutung zu geben und Menschen aus einer anderen, reflektierteren Perspektive zu betrachten. Denn arbeiten, essen, schlafen, das allein sollte das Leben von keinem sein. „Das stiftet keinen Sinn im Leben“, so die Schlussworte eines Tagelöhners in der Dokumentation.
Text: Carina Plinke
Fotos: Nadja Armbrust