Liebes Deutschland,
ja, genau du, das Kollektiv. Jede und jeder der 80 Millionen. Zum ersten Mal im Leben schreiben wir einen Brief an dich, liebes Deutschland. Gerade leben wir in der Türkei, in einem Land, welches 75 Millionen EinwohnerInnen hat. Jede und jeder von ihnen hat eine eigene Geschichte, eigene Ideen, Träume und Ziele. Und jeden Tag dürfen wir neue Facetten kennenlernen:
“Mal sind es Lokantabesitzer, die regelmäßig morgens syrischen Geflüchteten, welche vor ihrem Laden schlafen, eine Suppe zum Frühstück bringen – ohne Agenda, ohne Organisation im Rücken. Einfach aus Menschlichkeit.”
“Es ist der nette Mann auf der Vapur (Fähre), der ohne Aufforderung sein Akbil (E-Ticket) auf den Sensor legt und für mich bezahlt, da ich Idiot wieder vergessen habe dieses aufzuladen. Und danach mit einem Lächeln mein angebotenes Geld ausschlägt und einfach weitergeht. (Er kann natürlich kein Türke sein, da diese IMMER Machos sind und niemals hilfsbereit.)”
“FreundInnen, die sich Gärten außerhalb der Stadt kaufen und von einem Leben in Harmonie und Natur träumen. Sie pflanzen Bäume, legen Beete an oder planen Festivals weit weg vom Wahn und Lärm der Stadt.”
“Es sind die drei alten Männer in Tarlabaşı, die mich anfangs noch misstrauisch musterten, während sie ihren Çay tranken und die Würfel ihres Tavlaspiels zwischen den Fingern gleiten ließen. Die aber, seitdem ich einmal meinen Mut zusammengenommen habe, um sie auf Türkisch zu begrüßen, mir jeden Abend hinterher schauen, um sicherzustellen, dass ich wohlbehalten an meiner Haustür ankomme.”
“Es ist der Hotelbesitzer in Samsun, der sich einfach mal den Vormittag freinahm, um uns mit seinem Privatauto eine kleine Stadtführung zu geben und uns dann am Busbahnhof absetzte. Aber erst, nachdem er sich telefonisch um ein Hotelzimmer für uns an unserem nächsten Reiseziel gekümmert hatte.”
“Es ist Serkan Abi, mein Bakkalbesitzer (Kiosk), bei dem ich jeden Abend mein Wasser kaufe, der mich ganz aufgebracht eines Montags fragte, wo ich denn gewesen sei. Er hätte sich schon Sorgen gemacht, weil ich das Wochenende davor einen spontanen Kurzurlaub gemacht hatte.”
“Es ist die alte Frau in einem kleinen Dorf bei Izmir, die auf dem Absatz kehrtmachte, als wir sie nach dem Weg fragten und einen 20-minütigen Umweg in Kauf nahm, um uns persönlich zu unserem Ziel zu begleiten.”
“Es ist mein Lokantacı, den ich jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit grüße. Nachdem ich eines Abends wieder eine Suppe bei ihm aß, bat er mich, doch auch morgens mal reinzuschauen. Da hätte er Kaffee oder Çay und etwas Zeit zum Quatschen. Seit diesem Tag wartet jeden Morgen ein Kaffee auf mich, den ich jeden Morgen aufs Neue versuche zu bezahlen – ohne Erfolg.”
Es ist das Gefühl, egal wo man hinkommt, immer einen Çay und ein offenes Ohr zu finden – ein Zuhause zu haben. Egal, ob man sich fünf Jahre, fünf Monate, fünf Tage oder auch erst fünf Minuten kennt.
Es sind die unzähligen Momente auf der Vapur, in denen Menschen ihre Musik mit uns teilen. Sie spielen einfach los, spielen für Freude und etwas Applaus. Jedes Mal klingt diese Musik anders, jedes Mal sind es andere Menschen. Sie singen in den unterschiedlichsten Sprachen und doch verbindet sie Istanbul und ein Lebensgefühl.
Die Türkei, das sind Momente, in denen, wenn dir eine Person bei deiner Frage nicht weiterhelfen kann, ein ganzes Stadtviertel zusammenkommt und beratschlagt, so lange bis du nicht nur eine Antwort, sondern auch neue Freunde gefunden hast.
Die unzähligen Menschen in der ganzen Stadt, die wie selbstverständlich den Hunden und Katzen von der Straße jeden Tag etwas zu essen geben und ihnen kleine mehr oder weniger improvisierte Zuhause bauen, die sie bei Unwetter in ihren Ladeneingängen Schutz suchen lassen. Das Gefühl von Gemeinschaft und Nachbarschaft nicht nur zwischen Menschen, auch das ist Teil unseres Alltags.
Initiativen und EinzelkämpferInnen, die sich meist ungesehen von Medien und Öffentlichkeit für Gleichberechtigung, Umweltschutz, Menschenrechte und vieles mehr einsetzen. Sie erhalten meist keinerlei Achtung, doch auch sie sind Teil dieser Gesellschaft.
Und dieses Land … ist auch die Türkei!
All dies bereichert unsere Leben unheimlich und wir sind dankbar. Es ist eine Welt abseits der Politik. Weit weg von Erdoğan, der gefühlt omnipräsent ist, und doch nicht immer wichtig für uns. Abseits von Türkei- und Deutschland-Bashing, dort, wo der persönliche Kontakt am Ende mehr zählt als die Bühne der Weltpolitik. All diese Menschen, denen wir tagtäglich begegnen, deren Türen uns immer offenstehen, deren Çay-Gläser stets gefüllt sind und die keinen schönen Moment unbeachtet vorbeiziehen lassen. Abseits von Krieg und Zerstörung im Osten, abseits von den Terroranschlägen, die türkische Städte immer wieder erschüttern. (Und diese, liebes Deutschland nimmst du oft nur wahr, wenn die Bomben in Ankara oder Istanbul hochgehen.) Abseits von Nationalismus, Hetze und Vorurteilen gibt es ein normales Leben in der Türkei. Es ist an manchen Tagen schwierig, aber es ist sehr bunt und lebenswert.
Liebes Deutschland, vielleicht magst du die Türkei zumindest an manchen Tagen auch durch unsere Augen sehen…
Liebe Grüße vom Bosporus
Deine
Rebecca Meier, Judith Blumberg, Maximiliane Schneider, Aylin Michel, Olan Scott Pinto, Jonas Wronna
Illustration: Judith Blumberg
Redaktion: Marie Hartlieb, Tuğba Yalçınkaya