Kübra Gümüşays Buch “Sprache und Sein” beginnt mit dem bekannten Zitat von Rumi: “Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.”. Das Buch beschreibt dabei die Suche nach genau diesem Ort: Einem Ort, an dem diskriminierungsfreie Sprache möglich ist, einem Ort der Solidarität und Anteilnahme, jenseits des Hasses.
Dass der Weg bis dahin ein weiter ist, macht Kübra Gümüşay eindrücklich deutlich, indem sie aufzeigt, wie Sprache unser Denken und unsere Gesellschaft strukturiert – und vor allem hierarchisiert. Ihr Gedankenspiel führt die Leser*innen in das Museum der Sprache – einen Ort, wo es die “Benannten” und die “Unbenannten” gibt: “Die Unbenannten wollen sie (die Benannten) verstehen – nicht als Einzelne, sondern im Kollektiv. Sie analysieren sie. Inspizieren sie. Kategorisieren sie. Katalogisieren sie. Versehen sie schließlich mit einem Kollektivnamen und einer Definition, die sie auf die Merkmale und Eigenschaften reduziert, die den Unbenannten an ihnen bemerkenswert erscheinen. Das ist der Moment, in dem aus Menschen Benannte werden. In dem Menschen entmenschlicht werden.” (S. 54)
Diese Machtmechanismen kennt Kübra Gümüşay aus ihrem eigenen Leben. Sehr ehrlich berichtet sie von ihren Erfahrungen als “Benannte”: Da ist beispielsweise die Abwertung der türkischen Sprache bereits in Schulzeiten, da ist das immerwährende Rationalisieren-Müssen des eigenen Glaubens, die ständige Repräsentation einer Gruppe als sichtbare Muslima. Die Erklärungsnot als jemand, die nicht in Schubladen zu passen scheint, als jemand, die irritiert, schon allein weil Islam und Feminismus im Diskurs der Mehrheit so selten zusammengedacht werden.
Kübra Gümüşay verbildlicht, wie Sprache uns prägt und einengt. Mit zahlreichen Beispielen und Fragen, bringt sie die Lesenden dabei zum Nachdenken: “Wer wären Sie heute, hätten Sie Menschen von klein auf permanent nach dem Grund ihres Hauttons gefragt? Ihrer Hautstruktur? Wer wären Sie, wenn Ihre Antworten darauf eine Bringschuld erfüllen, aber keinerlei Wertschätzung erfahren?” (S.81). Und lässt uns auch umgedreht imaginieren: Wer wären wir heute, wenn es diese Grenzen und Kategorien in unseren Köpfen nicht gäbe?
Nach dem rechten Terror in Hanau und der diesbezüglichen Berichterstattung gewinnt “Sprache und Sein” abermals an trauriger Aktualität. Gümüşay macht in ihrer Streitschrift deutlich, wie rechtspopulistisches Vokabular wie “Fremdenfeindlichkeit” unkritisch in den Medien übernommen wird, wie Menschen durch das, was sie Absolutheitsglauben nennt, auf einzelne Kriterien reduziert werden. So wurden auch die Opfer des Anschlags in Hanau mit ihren unterschiedlichen Lebensgeschichten, Überzeugungen und Träumen in den Medien allzu oft zu “Menschen mit Migrationshintergrund” , zu „Muslimen“ oder schlimmstenfalls zu “Fremden” gemacht.
Für ein freies Sprechen, für eine diskriminierungsfreie Sprache sei der erste Schritt, von diesem Absolutheitsglauben abzukommen, so Gümüşay. Es gibt nicht die Geflüchteten, nicht die Muslime, nicht die Deutschen: “Erst wenn wir nicht mehr auf Fragen nach der muslimischen Frau antworten, erst wenn wir widersprüchlich, facettenreich und unverstanden sein dürfen, können wir menschlich und frei sein” (S. 65), schreibt Kübra Gümüşay.
Dass Sprache aber nicht nur ein Käfig ist, sondern uns auch empowern und bewegen kann, wird deutlich, wenn Kübra Gümüşay von ihren persönlichen Empfindungen zu Sprache schreibt. So erzählt sie von Begriffen wie “gurbet” und “aciziyet”, für die es keine stimmige Übersetzung zu geben scheint – und von dem, was Sprachen ihr geben: „Türkisch ist für mich die Sprache der Liebe und Melancholie. Arabisch eine mystische, spirituelle Melodie. Deutsch die Sprache des Intellekts und der Sehnsucht. Englisch die Sprache der Freiheit.”(S. 30)
Kübra Gümüşays Worte geben Hoffnung, dass wir vielleicht irgendwo inmitten dieser Sprachen, inmitten der vielen Geschichten und Ambivalenzen, mithilfe von Mut zur Fehlbarkeit an den Ort gelangen, von dem schon Rumi geschrieben hat. Kübra Gümüşay sagt: “Freies Sprechen setzt voraus, dass die eigene Existenz, die eigene Menschlichkeit und Existenzberechtigung nicht zur Disposition steht, dass nichts zu verteidigen und beweisen ist.” (S. 158) Ihr Buch „Sprache und Sein“ ist ein Plädoyer, für diese Grundvoraussetzung gemeinsam einzustehen.
Kübra Gümüşay, Sprache und Sein, Hanser Berlin, 18 Euro. Erhältlich hier.
Text: Marlene Resch
Bild: Marlene Resch, Hanser Berlin