In Istanbul steckt so viel Geschichte, dass wohl selbst absolute Expert*innen immer wieder Neues hören. Mit ihrem neuen Buch Istanbul: Die Biographie einer Weltstadt legt die Historikerin Bettany Hughes nun ein riesiges Werk zur Stadt der Städte vor. Ilgın Seren hat es gelesen.
Die Stadt bot den hartnäckigsten Theokratien der Welt Rückhalt, sie unterstützte die Vorherrschaft des Christentums als Weltreligion, sie entmutigte Kalifen und fand sich dann mit dem langlebigsten Kalifat der Geschichte ab. Neben Mekka, Medina und Jerusalem sehen viele in Istanbul den heiligsten Ort der Sunniten. Identitäten des Nahen Ostens, der Balkankonflikt, die Aufspaltung von Kroatien und Serbien, die Rolle der Türkei in der Europäischen Union, ein expansionistisches Russland, der Konflikt im Heiligen Land, Religionskonflikte in den USA und Europa, die umstrittenen Grenzen der Staaten Irak und Syrien (sowie Israel) und die staatenlosen Flüchtlinge, die aus all diesen Konfliktregionen fliehen: Alle haben ihre Wurzeln in der Geschichte der Stadt mit den drei Namen.
Die Stadt mit den drei Namen? „Byzantion oder Byzantium (ca.670 v.Chr. – 330 n.Chr.), Konstantinopel, al Qustantiniyye, dann Kostantiniyye (ca. 330 n.Chr. . 1930); Istanbul oder Stimbolo (seit ca. 1453).“
Bettany Hughes erklärt, was wir Istanbul zu verdanken haben
Istanbul, Sehnsuchtsort vieler Deutsch-Türk*innen und Reisenden weltweit. Viele von uns sind verliebt in diese bunte Stadt, in der jede*r einen Platz zu finden scheint. Die Stadt, in der alle Kulturen und Religionen zur Geltung kommen. Doch wer kennt die Geschichte dieser Stadt? Wer weiß wirklich, was in den letzten 6000 Jahren vor sich ging, wer dort lebte, wem welche Kunst- und Kulturgüter zuzuschreiben sind und wer dort wann „das Sagen“ hatte?
Bettany Hughes! Die 1967 geborene britische Historikerin lehrt nicht nur am King’s College in London, sondern schreibt auch Bestseller-Bücher wie beispielswiese The Hemlock Cup: Socrates oder Athens and the Search for the Good Life. Außerdem ist sie die Verfasserin einiger TV-Sendungen (Helen of Troy, The Roman Invasion of Britain).
Jetzt ist mit Istanbul: Die Biographie einer Weltstadt ein neues großes Werk von ihr erschienen: Auf 940 Seiten beschreibt sie fesselnd die Geschichte der Weltstadt und erklärt uns auch, was wir ihr zu verdanken haben:
Im Kleinen und Großen verdanken wir dieser Stadt und der von ihr gelebten Kultur mehr, als wir wahrscheinlich wissen: den Ausdruck „Lingua franca“, die Anbetung der Jungfrau Maria, das Nizänische Glaubensbekenntnis, den Namen der Roma, Pässe, die Gabel, den Chauvinismus, den Umstand, dass es Menschen gibt, die sich als Weiße Kaukasier bezeichnen, die Grundlage des abendländischen Gesetzes – alles ging aus dem Schmelzofen Istanbul hervor. Griechische Tragödien, römische Philosophie, christliche Texte, islamische Dichtung – viele erstklassige literarische Zeugnisse erhielten sich nur dank der Arbeit der Männer (manchmal auch der Frauen) –in den Skriptorien (Werkstätten für die Abschrift, Übersetzung und Analyse von Manuskripten) der Stadt, in den Bibliotheken, Medresen und Klöstern; Istanbul hat viel zur Bereicherung des Zivilisationsspeichers beigetragen.
Hughes stellt in ihrer Biografie Istanbuls lebendig die Kulturen und Völker, die Istanbul eroberten, vor und bettet sie in die Erlebniswelt ihrer Protagonist*innen ein. Die Zeittafel bietet interessierten Leser*innen eine gute Übersicht über die wechselnden Machtverhältnisse und verschiedenen Herrscher der Metropole. Das Buch eignet sich nicht nur bestens als Vorbereitung für einen längeren Istanbul-Aufenthalt, sondern auch, um diese einzigartige und atemberaubende Stadt und ihre manchmal widersprüchlichen Impulse besser verstehen zu können und vor allem als fundiertes Nachschlagewerk für Turkologie- oder Geschichtsstudierende. Um es an einem Stück zu lesen, ist es zu detailliert. Aber so ist Istanbul eben – groß, mit vielen Details und nie mit nur einer Reise ganz zu erfahren.
Bettany Hughes: Istanbul: Die Biographie einer Weltstadt
Klett-Cotta, 2018
940 Seiten, 35 Euro
Hier erhältlich
Text: Ilgın Seren Evișen
Foto: Klett-Verlag