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Von Beyoğlu Blues, Köln und Istanbuls Wandel

Auf einen Çay mit Gerrit Wustmann

Wir sitzen im Literaturcafé Goldmund im Kölner Veedel Ehrenfeld, als Gerrit Wustmann mir sagt, dass er eigentlich nicht vor hatte, über Istanbul zu schreiben. Das mache ja jeder. Aber dann war er 2010 das erste Mal dort, um eine Freundin und NRW-Künstlerstipendiatin des Atelier Galata zu besuchen. Innerhalb seines zehntägigen Aufenthaltes blieb ihm nichts anderes übrig: „Ein Schriftsteller in Istanbul kann gar nicht anders, als über Istanbul zu schreiben.“

Aus dieser Unmöglichkeit, nicht über die Stadt zu schreiben, entstand innerhalb der zehn Tage der erste Teil seiner Istanbul-Trilogie Beyoğlu Blues. Der Lyrikband verkaufte sich gut und das sei, so Gerrit, für Lyrik eher eine Ausnahme. Umso mehr wollte er sein Vorhaben von einer Trilogie umsetzen. Der zweite Band entstand zur gleichen Zeit, in der die Gezi-Proteste den Bau eines Einkaufszentrums auf dem Taksim-Platz verhinderten. Beim dritten und letzten Band, den er 2016 veröffentlichte, klingt es nach einem  Abschied von Istanbul.

Auf die Frage, ob der Abschied auch bewusst geplant war, entgegnet Gerrit, dass der letzte Lyrikband eigentlich ein fiktionaler melancholischer Abgesang werden sollte, sich aber Fiktion und Realität überraschend ineinander verwoben. Ob es bei dieser, in sehnsüchtigen Momenten auch schmerzhaften Trennung von Istanbul bleiben wird, behält Gerrit für sich.

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Auf meine Frage hin, was ihn in Istanbul neben der allumfassenden Atmosphäre der Stadt inspiriert hat und wie er sich zur Zeit ohne Istanbul inspirieren lässt, verrät er mir eine seiner Schreibtechniken. Für Gerrit ist Schreiben eine Möglichkeit, sich Zugänge zu verschaffen, sowohl zu bekannten als auch unbekannten Texten.

Die Rätselhaftigkeit und der damit verbundene Interpretationsspielraum der Literatur unterliegt einem Wandel der Zeit. Wenn man einen Text zum zweiten Mal liest, dann liest man ihn aus dem Standpunkt einer neuen Gegenwart heraus. So wird Schreiben als Reaktion auf Gelesenes, auch ohne unmittelbar sichtbare Intertextualität, zum Spiegel der Zeit.

Deshalb hat Gerrit in Istanbul häufig Texte anderer Lyriker*innen und Schriftsteller*innen gelesen, um sich daraufhin an die Orte aus den Texten zu begeben. Auf der Suche nach Gefühlsspuren, die er zwischen den Zeilen herausgelesen hat, wollte er nachempfinden, ob die Orte noch die gleichen sind.

Köln, Gerrits Geburtsstadt und die Stadt, in der er groß geworden ist, mag er sehr und kehrt deshalb auch immer wieder zurück. Auch wenn die Stadt am Rhein nicht unbedingt „Ecken der Überraschungen“ bereit hält, so ist sie doch ein Ort des regen Austausches. Der Begriff des Austausches bleibt auch an unserem Gespräch haften. Er ist wie ein Gelenkstück, um das sich unsere Vorstellung von einer deutsch-türkischen Kommunikation auf Augenhöhe schließt.

Zur Förderung dieses Austausches wurde Gerrit 2012 im Rahmen des NRW-Künstlerstipendiats selbst nach Istanbul geschickt. Doch auch wenn Gerrit jetzt wieder in Köln lebt, so darf der Austausch nicht abbrechen, sagt er. Nicht ganz unkritisch kommentiert Gerrit, dass viele Stipendiat*innen nach Istanbul gehen, aber zu wenige nach Köln kommen. Dabei würden die Gedichte eines Istanbullu über Köln sicherlich doch die ein oder andere „Ecke der Überraschung“ offenbaren.

Vor dem Hintergrund eines Austausches war für Gerrit auch ziemlich schnell klar, dass seine Lyrik zweisprachig vorliegen muss. Er mag den Klang der türkischen Sprache, findet die Einflüsse des Persische und Arabischen und den Aufbau der Grammatik faszinierend. Der unglaubliche Spielraum an Interpretation macht es bei all der Faszination aber auch unglaublich schwierig, aus dem Türkischen zu übersetzen. Dies selbst zu machen und mehr Werke im Original lesen zu können, ist ein Wunsch von Gerrit.

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Und was vermisst er an Istanbul am meisten? Die Freunde und Freundinnen, genauso wie alle Menschen, die die Stadt und ihre Atmosphäre ausmachen. Natürlich am Laptop sitzend Blick auf den Bosporus zu haben. Und dass die Stadt trotz ihres Chaos und der Menschenmassen Zeit hat.

Da fällt ihm gleich eine Anekdote zu einem Erlebnis im Otto ein, einem Restaurant in Cihangir, in dem er nur schnell eine Pizza essen wollte. Am liebsten hätte er gleich nach dem Essen bezahlt, weil er schnell weiter musste, doch der einzige Kellner war zwischenzeitlich verschwunden und ließ die Gäste im Restaurant alleine zurück. Die Bedienung konnte sich nicht vorstellen, dass man unmittelbar nach der Bestellung schon wieder gehen will.

Gerrit weiß, dass das heutige Istanbul längst ein anderes ist als das, das er nach seinen Besuchen zurück gelassen hat. Aber das findet er nicht bedrückend, denn Istanbul war schon immer einem Prozess des Wandels unterlegen und wird es auch immer bleiben. So ist das vielleicht mit allen Dingen in der Zeit.


Gerrits Istanbul-Trilogie ist im Verlag binooki erschienen. Hier gibt es weitere Infos.


Text: Carina Plinke
Fotos: smp


In der Reihe “Auf einen Çay mit …” treffen wir immer wieder Persönlichkeiten, die die deutsch-türkischen Beziehungen kulturell prägen. So haben wir uns zuletzt zum Beispiel mit der Filmemacherin Aslı Özarslan und dem Musiker Sultan Tunç unterhalten.