(…) ist es schon so weit dass man sich
ums alter sorgt und fragt ob man
den terminplan noch erfüllen kann (…)
wollte es nicht glauben versicherungen
waren immer schon so wertlos(…)“
Es ist so weit: B-Sides heißt der neue Lyrikband von Gerrit Wustmann, die Rückseite einer Schallplatte, einer Kassette? Die Rückseite eines Blatt Papiers vielleicht. Wustmann erklärt einleitend, dass die Gedichte keine neuen Texte sind. Vielmehr sind sie Spaziergänge durch Schubladen gefüllt mit alten Texten. Den Spaziergang durch alte Erinnerungen, den Wustmann gemacht hat, den geh ich mit. Nicht nur, weil Istanbul für mich ähnlich weit zurück liegt und rhein bosphorisch („(…) die andere seite der uferwiesen und rückkehr: wohin?(…)“) mich an meine eigenen Gedanken im Landeanflug von Istanbul auf Köln erinnert, sondern weil zwischen den Zeilen viel Platz ist für meine eigenen Gedanken.
In meinem Germanistikstudium habe ich mal einen Text über die Psychologie der Kunst von Wygotski gelesen. Er beschrieb, wie gute Literatur genau so viele Leerstellen lässt, dass der/ die Leser:in sie füllen kann, ohne im Text verloren zu gehen. Genug Leerstellen, um sich selbst zu finden. Genug Grenzen für einen Rahmen, der die eigenen Erinnerungen hält. Die Gedichte von Wustmann klingen prosaisch, ihre Bilder sind lyrisch und sie lassen Platz. Für die Gedanken ihrer Leser:innen.
Wustmanns neuer Lyrikband B-Sides erzählt wenig von Istanbul und dennoch liest man von dem Beyoğlu Blues noch zwischen den Zeilen. Sehnsuchtsvoll sind die Gedichte. Ich fühle sie, denn niemand hat mich Sehnsucht so gelehrt wie Istanbul. Und wenn man meint, die Stadt vergessen zu haben, reichen ein paar Zeilen wie „die reiseflughöhe haben wir nicht erreicht. auf letzten metern brachen anfänge aus und holten sich ein.“ Und die Sehnsucht hat einen wieder.
Der Lyrikband hat ein Intro, Lovesongs, B-Sides und Demotapes. Die herausgekramten Texte sind jedenfalls nicht mehr bloß die Rückseite irgendeiner Idee. Im Vorwort sagt Wustmann, der Lyrikband wäre ein Backstage-Pass. Backstage kommt man ja bekanntlich immer besonders nah an Künstler:innen heran. Ob wir nun mit der Lektüre auch Wustmann persönlich begegnen, dass kann ich selbstredend nicht sagen. Aber mir selbst kam ich näher und so wurde die Lektüre für mich zu einem ästhetischen Erlebnis.
Text und Bild: Carina Plinke