Kreuzberg Vibes – Musik tönt aus verschiedenen Richtungen über die Wiese im Görlitzer Park. Es riecht nach Sommer, ein kleiner Regenschauer zieht vorüber, gefolgt von einem Regenbogen. Ich warte auf Melissa Kolukısagil, die Gründerin und Kuratorin des İç İçe Festivals, ein Festival für neue anatolische Musik. Wir kennen uns aus einem Schreibworkshop, den ich vor zwei Jahren geleitet habe. An dem Tag erzählte sie mir abends in der Bar in der sie auflegte von der Idee des Festivals İç İçe, die zu dem Zeitpunkt noch in Kinderschuhen steckte. Eines war aber dennoch unverkennbar: Melissas Leidenschaft für Musik. Auch einen Namen hatte sie schon: Miteinander verwoben sind die anatolischen Klänge mit denen Melissa aufgewachsen ist, und Klängen aus Musikgenren wie Electro und Pop.
“Meine musikalische Sozialisation fand als Kind auf türkischen Hochzeiten statt.”
Musik, so habe ich oft den Eindruck, ist in Familien, die in den 60er und 70er Jahren aus der Türkei nach Deutschland migriert sind, oftmals ein Tool, um Traumata zu verarbeiten um für das, was mit Worten nicht ausgedrückt werden kann, eine Sprache zu finden. Sie fängt auf, drückt Schmerz aus und schafft ein kollektives Gemeinschaftsgefühl.
“Meine musikalische Sozialisation fand als Kind auf türkischen Hochzeiten statt.” Aufgewachsen in den 90er Jahren wurde Melissa insbesondere von türkischen Pop Hits geprägt. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr, wie sie aus der Türkei mit einer Kassette von Tarkan, seinem damals neuesten Album “Karma”, zurückkam. Auch Klassiker wie Orhan Gencebay, den sie heute aufgrund seiner politischen Positionierung kritisch betrachtet, waren Teil ihres damaligen Repertoires. Das Lied “Kaderimin Oyunu” von Orhan Gencebay habe für sie bis heute eine besondere Bedeutung, denn es begleitete die Autoreise ihrer Mutter, als diese als Braut aus der Türkei nach Deutschland kam. Auch sie habe zu ihrer musikalischen Entwicklung beigetragen, da sie zu Hause immer viel gesungen habe.
Musik ist meine Sprache
Von anatolischer Musik und der türkischen Sprache hat sich Melissa in ihrer Pubertät distanziert, was dazu führte, dass sie ihre Muttersprache teils verlernte. Musik jedoch , “…ist die Sprache, die ich nie vergessen will.” In ihr findet sie sich wieder und identifiziert sich mit ihr. Musik ermöglicht es ihr, verschiedene Fragmente der eigenen Identität und Zugehörigkeit, abseits von starren Konstrukten, eins werden zu lassen und sich neu zu er-finden. Genau darum geht es auch beim İç İçe Festival: Es spiegelt zum einen die Fluidität und Hybridität von Melissas Zugehörigkeit(en) wieder, so wie die vieler anderer in Deutschland lebenden Menschen, deren Familien aus der Türkei migrierten. Zum anderen ist sie aber auch ein Entgegenwirken, gegen die einstige Entfremdung von türkischer Sprache und Musik. “In der Pubertät habe ich irgendwann fast gar keine anatolische Musik mehr gehört und befand mich irgendwo zwischen Auflehnung gegen meine Familie und Protest gegen die weiße Dominanzgesellschaft”, reflektiert Melissa, die verschiedene “Musikphasen” durchlebte: Metal, Indie und Elektro wurden zu ihrem ständigen Begleiter und so begann sie selbstMusikevents zu organisieren. “Dabei habe ich gemerkt, wie weiß und hierarchisch die Musikszene in Deutschland ist. Ich habe darin keine Gesellschaft erkannt, in der ich leben möchte”, erzählt sie rückblickend. Erst als sie Zugang zu FLINTA und BIPoC Musik Communities fand, fing sie an sich wohl zu fühlen und sich weiterzuentwickeln. Diese seien nach wie vor in der Musiklandschaft unterrepräsentiert. Bei ihren eigenen Musikevents achtet sie darauf, dass mindestens 50% der auftretenden Künstler*innen FLINTA sind. Auf dem İç İçe Festival sind es sogar über 60%.
Das İç İçe Festival als Fusionierung von Lebenswelten
Das İç İçe Festival möchte die vielen Stimmen ihrer Community repräsentieren und sie gesellschaftlich sichtbar machen, damit anatolische Musik und ihre Kulturräume in Deutschland den Raum bekommen, den sie verdienen. Denn die Einwanderung von Arbeiter*innenfamilien und somit auch die Musik, die sie mitbrachten, ist ein wesentlicher Teil Deutschlands. Im Festivalkonzept heißt es dazu: Schon immer galt die anatolische Region als Schmelztiegel für diverse kulturelle Strömungen und Musiktraditionen. Spätestens seit den 60er Jahren entfalten sich diese in unserer unmittelbaren Nachbarschaft neu und beeinflussen von Underground bis in die Popkultur unseren Alltag und das Nachtleben.
Bei der Organisation des Festivals hat Melissa Unterstützung von einem vierköpfigen Team: Neben Tausendsassa Kaya, wie Melissa ihn nennt, und ihrem Schulfreund Yannick ist ihr Patenkind Hiyam Teil des İç İçe Teams. İç İçe wird geführt wie ein kleines Familienunternehmen. Das unterstreicht auch Melissas Schwester Güzide, die ich ebenfalls an diesem Freitagnachmittag kennenlernte: “Wir sind in ständigem Austausch. Dadurch ist das Festival auch ein Stück weit zu meinem Herzensprojekt geworden”. Jetzt muss nur noch das Wetter mitspielen, denn das Festival wird auf dem Außengelände des Festsaal Kreuzberg stattfinden. Auch das Lineup steht natürlich schon: Adir Jan, Barış K., Gaddafi Gals, Gazino Neukölln, Insanlar, Karmatürji, Leila Moon, Lilly & Kazan, Mehmet Aslan und Ya Tosiba. Allen Künstler*innen gemeinsam ist, dass sie kulturelle Fragmente ihrer Herkunft neu interpretieren und sich dadurch in der Gesellschaft nicht nur einen eigenen Raum, sondern auch Gehör und Sichtbarkeit verschaffen. Das Musikprogramm wird außerdem mit einer Lesung der Literaturplattform “Daughters and Sons of Gastarbeiter” ergänzt, bei der die Autor*innen in künstlerisch-performativer Form ihre autobiografischen Geschichten aus ihrer Familiengeschichte erzählen.
Mehr Informationen und Tickets für das Festival am 29.8. findet ihr hier.
Text: Tuğba Yalçınkaya
Bilder: Marie Konrad