18 Künstler*innen aus Köln lebten für mehrere Monate als Stipendiat*innen des Atelier Galata in Istanbul. Der Katalog “Aufwachen in Istanbul” zeigt nun Ergebnisse und Impressionen dieses Aufenthalts.
Es hätte nicht passieren dürfen. Es hätte nicht versucht werden dürfen „Aufwachen in Istanbul“ durch den schmalen Schlitz in meinem Briefkasten zu quetschen, so dass der Katalog noch halb auf der Straße hing. Wie unwürdig. Etwas verärgert zog ich das Paket heraus und nahm es mit mir in die Wohnung.
Beim Öffnen des dezenten, aber kunstvoll eingebunden Werkes flüsterte ich leise, fast unmerklich: „Wie schön du bist!“ Eben genau so, wie als mein Blick das erste Mal über Istanbul schweifte. Am frühen Morgen direkt aus dem Bett hinaus, das Fenster halb geöffnet, die Luft schmeckte nach Simit, Çay und Meersalz, ferne Stimmen erzählten Geschichten von den Möwen und Fischern. Ich war schlagartig eingenommen von dem Istanbul sehr eigenen Sinnesrausch. Wie schön sie ist, diese Stadt.
„Aufwachen in Istanbul“, herausgegeben vom Kulturamt der Stadt Köln, kürzlich erschienen im binooki Verlag, ist eine Sammlung von StipendiatInnen des Atelier Galata, dem 10- jährigen Residenzprogramm der Stadt Köln, dass Kölner KünstlerInnen und AutorInnen einen unterschiedlich ausgedehnten Aufenthalt in Istanbul ermöglicht. Im Oktober 2017 fand im Kunsthaus Rhenania am Rheinauhafen Köln eine Ausstellung statt, welche die Arbeiten der 19 KünstlerInnen und SchriftstellerInnen zwischen 2009 und 2017 präsentierte. Die Idee war, das Residenzprogramm und dessen Ergebnisse mehr in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken. Zu einem Zeitpunkt an dem die Türkei längst in den Mittelpunkt deutscher Medien geraten war, als ein Land im Ausnahmezustand. Die negativen Nachrichten und Ereignisse, die Verhaftungen von Journalisten und Journalistinnen wirkten sich auch auf die Bewerbungen des Residenzprogrammes auf. Viele wollten weniger Zeit als die ursprünglich geplanten sechs Monate in Istanbul verbringen. Doch das Erfassen der Stadt braucht Zeit. Zeit, die sich die in dem aus der Ausstellung entstanden Katalog präsentieren KünstlerInnen und AutorInnen genommen haben. Das geht vor allem aus der Diversität ihrer Ergebnisse hervor.
Der Katalog ist in drei Kapitel aufgeteilt. Kapitel 1 zeigt die Werke und Erfahrungen bildender Künstlerinnen und Künstler, Kapitel 2 die Erfahrungen und Ergebnisse der Autorinnen und Autoren. Kapitel 3 widmet sich dem kontinuierlichen Austausch zwischen den beiden Städten. Die jeweiligen Einführungen sind von Nadine Müseler, Gerrit Wustmann und Barbara Foerster geschrieben. Die Reportagen über die einzelnen KünstlerInnen sind in Interviews angelegt. 17 Fragen, auf deren individuelle Auswahl doch sehr unterschiedliche Antworten gegeben wurden. Den drei Kapiteln voran- und nachgestellt sind Ausstellungsansichten und Impressionen von der Ausstellung, Konzert und Gespräch.
Ich möchte an dieser Stelle nicht auf die einzelnen KünstlerInnen oder AutorInnen eingehen, um eine persönliche Selektion zu vermeiden und diesen Text hier nicht zu überlasten. In die Erfahrungen der KünstlerInnen und AutorInnen sollte jedeR LeserIn selbst eintauchen. Eine einzige Textstelle möchte ich aber doch zitieren, weil sie mich so sehr berührte und ich denke, dass sie exemplarisch steht, für das Gefühl einer Stadt, in die so viele kommen und die auch so viele immer wieder verlassen.
„Eine Abreise passiert häufig einfach so, ohne dass der Reisende hinterher sagen könnte, wann genau er sich von einem Ort gelöst hat. Anders verhält es sich, wenn die Entscheidung, diesen Ort zu verlassen, nicht nur aktiv gefällt wird, sondern der Grund dafür ein ganz konkretes Ereignis ist. Und wenn dann noch etwas Zeit bleibt zwischen Ereignis und Abreise, ist ein Abschied möglich.“
Für den Stipendiaten Philipp Enders wurde das Selbstmordattentat vom 19. März 2016 auf der İstiklâl Caddesi zum Anlass seines vorgezogenen Abschiedes. Möglicherweise berührte mich diese Erfahrung, weil ich sie selbst erlebte. Weil ich weiß wie sich ein nicht ganz freiwilliger Abschied von Istanbul anfühlt und ich möchte an dieser Stelle all jene warnen, bei denen der Katalog die Narben einer schmerzlichen Trennung von Istanbul wieder aufreißen könnte. Denn völlig gleich, ob der Auslöser nun ein politischer, beruflicher gesellschaftlicher oder privater war oder ist, ich vermute, ein Abschied von Istanbul schmerzt immer. Ich möchte euch aber auch sagen: Stellt euch den Katalog in euer Bücherregal, legt ihn auf den Schreibtisch oder neben euer Bett. Bereichert euch!
Denn „Aufwachen in Istanbul“ ist wirklich für jeden etwas, für den Istanbul eine Liebe in seinem Leben ist, ganz gleich ob eine gegenwärtige oder verflossene. „Aufwachen in Istanbul“ ist für jeden etwas, der sich für die Kunst und dem Erhalt von deren Werten einsetzt. „Aufwachen in Istanbul“ ist für jeden etwas, der an die Früchte des kulturellen Austausches glaubt. Holt es euch, beschenkt euch damit und wacht (nochmal) in Istanbul auf.
Text: Carina Plinke
Bilder: Martin Plüddemann, © Kulturamt der Stadt Köln