60 Jahre nach dem Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland stößt Gastautor Seçkin Söylemez auf ein Gedicht von Hasan Hüseyin Korkmazgil, das ihn zum Nachdenken bringt. Eine Auseinandersetzung zur lyrischen Reflexion der Gastarbeitermigration.
Bilder von schnauzbärtigen Männern mit Holzkoffern an Bahnhofsgleisen, mit Helmen unter Tage und in Arbeitsmontur am Fließband, sind wie das oftmals bemühte Max Frisch-Zitat “Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen” Teile eines allseits bekannten Narrativs, wenn es um die Wahrnehmung der Gastarbeitermigration in Deutschland geht. Auch dieses Jahr, in dem zum 60. Mal an die Unterzeichnung des Anwerbeabkommens zwischen der Türkei und Deutschland erinnert wird, werden diese Bilder bemüht werden. Diese Form der Fremdzuschreibungen zeigt einmal mehr, dass es sich bei der öffentlichen Rezeption der frühen Arbeitsmigration in erster Linie um eine Geschichte über und nicht von „Gastarbeitern“ handelt. Um zu erkennen, dass es auch anders geht, genügt ein Blick über den Tellerrand.
Als mit dem Anwerbestopp von 1973 über Nacht aus Gastarbeitern dauerhaft niedergelassene Ausländer werden, setzt insbesondere im türkischsprachigen Kulturdiskurs eine intensive Auseinandersetzung mit der sozialen Kehrseite der Migration nach Deutschland ein. Ob als „schmerzhafte Heimat“ in den Liedern von Ruhi Su, oder in den Nachtschicht-Erzählungen von Fakir Baykurt, liegt der Fokus hierbei auf einer engen, herkunftsgebundenen, Wahrnehmung der Alltagsrealität vieler Migrant*innen. So existiert ein Jahrzehnt vor dem Erscheinen von Günter Wallrafs „Ganz Unten“ 1985 bereits eine extensive türkischsprachige Literatur zur migrantischen Perzeption des emek göçü. Auch heute noch erscheint eine Vielzahl der Kulturerzeugnisse aus dieser Zeit als hochaktuell, zumal sie eine Gegendarstellung zum vorherrschenden Gastarbeiter-Narrativ in Deutschland eröffnen. Ein Beispiel hierfür ist das Gedicht „İtler ve İnsanlar“ (deutsch: von Hunden und Menschen) von Hasan Hüseyin Korkmazgil aus dem Jahr 1976, welches ich im Folgenden mit euch teilen möchte.
Wie in vielen seiner Werke, nimmt Korkmazgil, auch in diesem Gedicht eine ungeschönte mitunter kritische wie auch selbstkritische Haltung gegenüber der sozialen Wirklichkeit ein. Im Fokus des Gedichts steht das Machtgefälle zwischen dem – durchaus pauschalisierten „Deutschen“ – und migrantischen Arbeiter. Es ist eine Reflexion des alltäglichen, wie auch grundsätzlichen Verhältnisses zwischen Migrant*innen und der deutschen Aufnahmegesellschaft.
Es bestünde nun durchaus die Möglichkeit das Gedicht einfach zu übersetzen – doch welche Auswirkung hätte das auf den Sinngehalt bzw. die Wirkmacht des türkischen Originals? Daher werde ich einen Kompromissweg einschlagen und das Gedicht weder übersetzen noch interpretieren, sondern lesen – und zwar so, wie ich es lesen würde. Die Interpretation überlasse ich euch.
İtler ve insanlar
Alamanlar
sevgili kardeşlerim
iyisiniz hoşsunuz
almanca da öğreniyorum
görüyorsunuz
Eine nette Begrüßung
Wille zum Spracherwerb – mehr als vorhanden
güzel garson kızlarınızdan bira istemesini
içine şınaps katıp içmesini de
kibarca dikizlemesini de kızların bacaklarını
iyi biliyorum
görüyorsunuz
Kneipen, hübsche Kellnerinnen
Bier und Schnaps
Selbstkritik – oder doch Vorurteile?
gutın tag da diyorum
dankı şön de
görüyorsunuz sigarayı sizler gibi tüttürüyorum
görüyorsunuz
Small talk funktioniert
Auch das Danke
Wie das Paffen von Zigaretten
ben de sizler kadar seviyorum
karaormanlar’ın gü-neşli karlarını
ruhur’un bacalarını
rayn’ın Şileplerini
ve şimşekli trenlerini
burglu bergli dağlarınızın
inanın ki seviyorum
ben de en az sizler kadar
Große Bewunderung für
den Schwarzwald
die Schornsteine des Ruhrgebiets
die Dämme des Rheins
die Züge
die Nebel umwobenen Berge
mindestens so sehr wie IHR
alamanlar sevgili kardeşlerim
bakın göthe diyorum
vagner, şiller, şopenhavr
darven’i tanıyorum kant’ı niçe’yi spinoza’yı
bethoven sizin değil bizim sanki
breht de öyle tomas man da sanki bizim
oraların adamı hegel’iniz engels’iniz marks’ınız
Goethe, Schiller, Schopenhauer, Nietzsche
So viele, dass man sich beim zählen erschöpft
Aber ebenso unsere Dichter und Denker
sömürseniz sıksanız da
surat asıp kaş yıksanız kovar gibi baksanız da
bizlerden çok sevseniz de
itlerinizden daha kötü değilsiniz
inanın bana
daha düşman değilsiniz
beni size bir pula satanlardan!
Ausbeutung, am Ende des Tages unser aller Schicksal
Mürrische Blicke – traurige Realität
Und wären da nicht diese Hunde
alamanlar
kardeşlerim
engels’in ve krup’un hemşerileri
iyisiniz
hoşsunuz silâhı ve köpeği yalnızlıktan seviyorsunuz
bunu anlıyorum
görüyorsunuz
Geschwister…
Engels und Krupp. Von außen ein und dasselbe
Euch geht es gut, vielleicht sogar besser
Verständnis
ama n’olursunuz
gözünüzü seveyim alaman kardeşlerim
itinizle oturmayin sofraya
itinizin tepesinden bakmayın
size eşşek gibi çalışan şu yabancıya
Eine Bitte
Schaut nicht herab auf den Hund
Schaut nicht herab auf die diesen Fremden der sich die Selle aus dem Leib arbeitet
gün olur devran döner
kurtulur su ellerim
seni çalıştırıp soyamazsam da
kurtaramazsam da seni krup’un cehenneminden
aç bebene bir bardak süt verebilirim
belki ölebilirim
seni kurtarmak için
yeni bir hitler kuduzluğundan
Es kommt der Tag… eine Hoffnung?
Meine/Seine/Unsere Hände frei?
Krupp – Hoffnung oder Hölle?
Ein Kind… Ein Schluck Milch
Alles um zu bewahren – das was man aufgebaut hat – gemeinsam
çünkü söyler benim türküm:
«kısa çöp uzundan hakkın alacak»
çünkü yazar kara kalem:
her çıkışın
bir inişi!
hani nerde afrika
hani nerde koca asya
«hani nerde
bıldır yağan kar şimdi?»
Vom kurzen und langen Streichholz… von Gerechtigkeit
biter krup
biter sermayenin ısırgan saltanatı
biz kalırız başbaşa
bütün işçileri dünyanın!
alamanlar
kardeşlerim
çıkarın gözlerinizden überman gözlüğünü!
Auch Krupp hat ein Ende – wie alles auf der Welt
Am Ende sind es wir…
Wir die arbeiten – Gemeinsam
Also deutscher Freund
Mein Freund, mein Bruder, meine Schwester…
Schau nicht auf mich herab… schau nicht auf… wir sind gleich
Zur Person Korkmazgils:
Geboren 1927 in der ostanatolischen Stadt Sivas, gilt Hasan Hüseyin als einer der wichtigsten Vertreter der sozialrealistischen Lyrik der Türkei. Seine zumeist gesellschaftskritischen Gedichte und Erzählungen behandeln die alltäglichen Strapazen und Herausforderungen des einfachen Volkes in der ostanatolischen Provinz oder den Banlieues der Metropolen. Oftmals spiegelt sich in diesen Arbeiten seine eigene Lebensgeschichte wieder. Zunächst als Provinzlehrer in Göksün (Kahramanmaraş) muss er aufgrund seiner politischen Aktivitäten den Lehrerberuf aufgeben. Später arbeitet er unter anderem als Portraitzeichner und Tagelöhner auf Baustellen. Anfang der 70er Jahre erreicht er mit seinem Gedichtband Kızılkuğu nationale Bekanntheit. Eine Vielzahl seiner Gedichte werden in den folgenden Jahren durch Künstler wie Selda Bağcan und Ahmet Kaya besungen, was seine gesamtgesellschaftliche Popularität ungemein steigert. Hasan Hüseyin verstirbt am 26. Februar 1984 im Alter von 57 Jahren in Ankara.
Text: Seçkin Söylemez
Illustration: Manije Angaji
Seçkin Söylemez ist Gastautor bei Maviblau. Er ist Politologe und beschäftigt sich mit Entwicklungen im Kontext Deutschland-Türkei. Seçkin hat auf Maviblau bereits einen langen Text über die Geschichte des Anadolu Rock geschrieben. Den könnt ihr hier lesen.